Breitachklámm in Oberstdorf

Vom eitlen Eiszapfen

„Wetten, dass ich bald länger und viel schöner bin als ihr es seid“, prahlte der Eiszapfen Eiteljörg vor allen seinen Freunden.

„Na und, das macht mir nichts aus“, Zalona, seine Nachbarin zur Linken, war vollkommen zufrieden mit ihren glitzernden Spitzen. „Ich will keineswegs wachsen, denn dann würde mich die Mittagssonne zur Wasserpfütze schmelzen. Und aus wär’s mit mir.“

„Ach, so ein Quatsch. Im Winter ist die Sonne zu schwach dazu. Ich bleibe nicht so ein Zwerg wie du.

Eiteljörg warf Zalona einen verächtlichen Blick zu.

„Denk doch mal daran, wie lang die Eiszapfen in den Bergschluchten sind. Da scheint auch die Sonne und sie sind meterlang. So gewaltig wie die Eiszapfen aus den Bergen will ich werden. Zu ihnen kommen die Menschen in Scharen, um ihre winterliche Eispracht zu bewundern. Sie machen Fotos von den allerschönsten. Du kannst ja unscheinbar bleiben. Aber ich nicht.“

Der eitle Eiszapfen war schon jetzt verzückt von seinem eigenen Spiegelbild.

„Du hast wirklich keine Ahnung. In den Bergen ist es viel kälter als hier und die Sonne scheint nicht in jeden Winkel einer Schlucht hinein, sodass die Eiszapfen in Ruhe wachsen können. Aber hier am Kühlturm ist das nicht so. Wenn wir noch länger werden, erreichen uns die Sonnenstrahlen und wir werden schnell als kleine Pfützen im Boden versickern oder in winzige Stücke zerbrechen. Berühmt sein – ich brauche das nicht, sondern ich bin lieber den Winter über mit meinen Nachbarn zusammen.“

Jetzt mischte sich der rechte Eiszapfennachbar Monty in die Diskussion ein.

„Eiteljörg, du solltest besser im Schatten bleiben und auf Zalona hören. Das ist kein dummes Weibergeschwätz.“

„Nicht mit mir. Ich will in ein Fotomagazin.“

Der eitle Eiszapfen dehnte sich nach links, um Unebenheiten auszugleichen, nach rechts, um einen winzigen herabfallenden Wassertropfen zu erhaschen und streckte sich wieder und wieder um einige Zentimeter nach unten. Dabei wurde er immer dünner und sein Ende glich bald einem durchsichtigen Bindfaden. Während seiner Dehn- und Streckübungen war die Sonne höher gestiegen und in spätestens einer Stunde würde sie ihn mit ihren Strahlen erreichen.

Seine Nachbarn beobachteten ihn bei den akrobatischen Übungen, hatten aber wenig Lust, ihn weiterhin zu warnen. Sie unterhielten sich über dieses und jenes, lachten miteinander und freuten sich auf das nahende Weihnachtsfest.

Plötzlich wurde ihre Unterredung durch einen lauten Knall unterbrochen. Viele tausend kleine Eiskristalle lagen zu ihren Eiszapfenspitzen auf dem Boden.

Eiteljörg war durch seinen Wunsch nach Ruhm so dünn geworden, dass ihn der erste Sonnenstrahl sofort zerbrochen hatte.