Strohsterne am Weihnachtsbaum

Vorsicht - Heiliger Abend

Heute, am Heiligen Abend, wollte es sich Raphael, der freundliche Schutzengel, im Wohnzimmer von Leonores Eltern gemütlich machen und die Kleine beim Auspacken der Weihnachtsgeschenke beobachten. Das ganze Jahr über stand er ihr zur Seite. Und das war auch gut so!

Raphael saß auf dem Weihnachtsbaum – zwischen Strohsternen, silbernen Kugeln, Glöckchen und Lichtern – und streckte sich. Sein Rücken schmerzte seit seinem letzten Sturzflug immer noch. Vor einigen Tagen hatte Leonore ihre neuen Schlittschuhe auf dem zu dünnen Eis des nahe gelegenen Teiches ausprobiert. Selbstverständlich war Raphael rechtzeitig zur Stelle, um sie aus dem Wasser zu fischen.

Kind rodelt

Während es draußen dämmerte, dachte er über Leonores kleine Abenteuer nach. Beim Rodeln im vergangenen Winter verfehlte sein kleiner Schützling das Ziel und musste aus einer dicken Schneewehe ausgegraben werden. Im Frühjahr hatte sie aus Versehen das Osterfeuer, den Zaun und die Gartenlaube ihrer Nachbarn in Brand gesteckt.

Auch im Sommer wurde Raphael herausgefordert. Leonore beschloss an ihrem ersten Urlaubstag, sofort im Meer zu baden, obwohl absolutes Badeverbot bestand. „Fahnen kenne ich schon“, erklärte sie ihrem 5-jährigen Freund, „von der WM, da hatte Papa so eine am Gartenteich und am Auto.“

Wenn ihre Eltern nach den „kleinen Katastrophen“ abends an ihrem Bett saßen, tröstete sie die 6-Jährige: „Ihr müsst keine Angst haben, mein Schutzengel passt auf mich auf!“ Und sie betete: „Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein. Behüte mich bei Tag und Nacht, dass mir kein Leid geschehen mag.“

Raphael spreizte seine Flügel, um es sich auf dem Ast des Weihnachtsbaumes noch etwas bequemer zu machen. Dabei stieß er aus Versehen an ein Glöckchen: „Kling, kling, kling.“

Sofort flog die Wohnzimmertür auf, Leonore stützte herein und stolperte im Halbdunkel dabei über die große Blumenvase mit den Adventszweigen. Kind und Vase landeten dank Raphaels Hilfe unversehrt unter dem Wohnzimmertisch.

Der Schutzengel merkte erst eine Schrecksekunde später, dass er dieses Mal für das kleine Chaos verantwortlich war. Er hatte aus Versehen das Weihnachtsglöckchen geläutet. Leonore nannte sie so, weil sie immer erst ins Wohnzimmer gehen durfte, wenn das Christkind dort fertig war und sie das Weihnachtsglöckchen hörte. Denn sonst, das hatte sie sich gemerkt, würde das Christkind zu früh entdeckt und sofort wieder wegfliegen – natürlich ohne die Geschenke unter den Baum gelegt zu haben.

Der Heilige Abend war folglich der einzige Tag im Jahr, an dem sich Leonore besondere Mühe gab, brav zu sein – abgesehen vom letzten Heiligen Abend, als sie die Wachskerzen am Weihnachtsbaum anzünden wollte und samt Baum auf das Sofa gestürzt war – und abgesehen vom vorletzten, als sie die dicke Weihnachtskugel zerschlagen hatte, weil sie darin ihre neue Haarspange ansehen wollte ...

Und an mehr Heilige Abende könne sie sich wirklich nicht erinnern!