Kartoffelsalat für den Nikolaus

Die halbe Nacht war der Nikolaus schon unter­wegs, hatte unzählige Geschenke in den Kinder­zim­mern auf der ganzen Welt verteilt. Aber keines der Kinder hatte auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass der Nikolaus Hunger haben könnte. Es gab keinen Reis in Japan, keinen Hamburger in Amerika und keine Knödel in Öster­reich. Der Nikolaus stolperte nur über zahlreiche alte Spielsachen, über schmut­zige Socken und volle Schulranzen, die in den Kinderzimmern auf dem Fußboden herum­lagen.

Sein Magen knurrte immer lauter und er konnte sich kaum noch auf das Verteilen der Geschenke konzentrieren. Das wäre peinlich, wenn er vom Hunger geplagt statt des gewünschten Spiel-Wohnmobils einen funkfernge­steuerten Offroader zu Frederike ins Zimmer stellen würde. Das gäbe ein Gelächter bei den Weihnachtswichteln am Nord­pol bis ins Jahr 3000 hinein. Diese Blamage konnte sich der Nikolaus natürlich nicht leisten.

Auch Rudolf, sein treuestes und ältestes Rentier, konnte ihm nicht weiterhelfen, denn es gab nur Stroh im Gepäck für alle Rentiere des Schlittens. Aber keine Weihnachtsplätzchen, Äpfel, Nüsse oder andere Leckereien.

Wieder waren zwei Stunden harter Arbeit für den Nikolaus vergangen. Und wieder hatten die Kinder nicht an seinen leeren Magen gedacht, sondern nur an ihre vielen Wünsche.

„Gott sei Dank, nur noch drei Stunden dauert meine Reise“, dachte der Nikolaus und blickte dabei auf seine goldene Weihnachtsuhr. „Ob es wohl irgendwo ein Kind gibt, das an meinen großen Hunger denkt? Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Rudolf.“ Der Nikolaus seufzte und stieg wieder in den Schlitten, um seine Reise fortzusetzen. Er zwängte sich durch den Kamin eines alten Bauernhauses und schlich sich leise ins Kinderzimmer. Er stolperte über etwas Hartes und fiel längs auf den Fußboden. „Auch das noch“, stöhn­te er, „bleibt mir denn heute Nacht gar nichts erspart!“ Der Nikolaus rieb sich die Nase und das Kinn.

Plötzlich ging das Licht an und zwei braune Kinderaugen strahlten ihn an. „Ich wusste, dass du kommst. Ich habe es mir so sehr gewünscht, dich einmal bei der Arbeit zu sehen. Deshalb habe ich auch nur das auf meinen Wunschzettel ge­schrieben. Spielsachen haben alle meine Freun­dinnen, aber niemand von ihnen hat den Nikolaus gesehen. Vielleicht hast du Hunger auf deiner Reise? Deshalb ha­be ich dir eine Schüssel mit Kartoffelsalat hinge­stellt. Ich habe heute Abend ex­tra we­niger gegessen, da­mit für dich etwas übrig bleibt. Kar­toffeln sind ge­sund und du musst doch gesund bleiben, wenn du zu allen Kindern willst.“

Der Nikolaus rieb sich gerührt über die Augen und zupfte verlegen an seinem weißen Bart. „Das ist lieb von dir, dass du an meinen leeren Magen gedacht hast. Ich habe meinen Weih­nachts­­kuchen vergessen und einen riesigen Appetit. Ich dachte schon, ich schaffe all die Arbeit nicht mehr, wenn ich nicht irgendwo etwas zu essen bekomme. Du glaubst gar nicht, wie schwer Spielsachen sein können, wenn man nichts im Magen hat.“ Der Nikolaus setzte sich auf Susannas Bettkante.

„Hier ist eine Gabel, ich habe sie vor dem Zubettgehen auf meinen Nacht­tisch­ gelegt, damit du dich im Dunkeln nicht verletzt. Guten Appetit, Santa. So heißt du doch auf Englisch oder?“

Während der Nikolaus ge­nüsslich den Kartoffelsalat verspeiste und von sei­nen vielen nächtlichen Be­su­chen erzählte, fielen der kleinen Susanna die Au­gen zu. Und sie träum­te vom Nikolaus, dessen Bauch immer dicker wur­de, weil er fort­an jedes Jahr zu ihr kam, um den leckeren Kar­toffelsalat zu essen.


Der rostige Rodel

Alt und rostig sehen seine Kufen aus und die Bretter oben haben schon viele Schrammen. Dicke Schrauben halten den Schlitten zusammen. Dennoch denkt die kleine Ellen liebevoll an ihren rostigen Rodel im Stall, wenn die ersten Schneeflocken herabfallen. Kaum liegt eine Hand voll Schnee, zieht sie ihn schon auf die Wiese im Garten. Nach der langen Sommerpause holpert der Schlitten zunächst über den Hof am alten Schuppen entlang. Eine braune Rostspur zeigt seinen Weg im frischen Schnee.

Ellen fährt mit ihren Winterfreund ein paar Mal hin und her – so­lan­ge, bis die braunen Spuren vollkommen ver­schwunden sind. Jetzt sind die rostigen Kufen wieder glatt. An einigen Stellen glänzen sie sogar silbrig. Mal sehen, ob sich schon ein Schnee­mann bauen lässt! Die Kleine schiebt ihren Schlitten quer über die Wie­se. Sie stöhnt ein bisschen, wenn sich der Schnee an beiden Kufen auftürmt. Doch bald ist es geschafft, der Schlitten hat seinen ersten Einsatz gut überstanden. Und ein dicker Schneemann steht abends im Garten.

Morgen will Ellen auf den Rodelberg gehen. Der liegt ganz in der Nähe im Wald. Zum Glück schneit es in der Nacht noch mehr. Dicke Flocken tanzen auch morgens auf Ellen herab, als sie den steilen Weg zum Rodelberg hinaufsteigt. Unterwegs rutscht ihr Schlitten über knorrige Baumwurzeln, holpert über große Steine, reckt sich manchmal senk­recht in die Höhe. Dann steht Ellen zum ersten Mal in diesem Winter an der Rodelbahn.

Zwei alte Eichen mar­kieren den Start. Erst geht es einen kurzen, aber vereisten Hang hin­unter. Dann kommt ein flaches Stück mit einer leichten Kurve. Hier braucht der Schlitten manchmal ei­nen kleinen Schubs mit den Füßen. Danach schießt er mit vol­ler Fahrt den Berg hinab. Vorbei an dicken Buchen auf der rechten und einem gefährlichen Abhang mit Sträuchern auf der linken Seite. Am Ende der Rodelbahn heißt es für alle kleinen Rodler noch­­mals gut aufpassen. Ellen stemmt ihre Stiefel in den Schnee und bremst in letzter Sekunde vor einem Gartenzaun.

„Toll war das – mein rostiger Rodel war superschnell“, denkt sie stolz. Ellen zieht nach ihrer ersten Rodelpartie an der alten, ausgefransten Kordel und der Schlitten macht eine kleine Kurve. Er folgt brav der Spur der kleinen Füße bis zum Start.

„He, was ist denn das für ein altes Modell? Wo hast du denn das ausgegraben?“ Holger, ein älterer Junge, wartet in der Schlan­ge vor ihr und lästert über Ellens Schlitten.

„Den habe ich von meinem Vater bekommen. Mein Opa hat ihn selbst gebaut. Der Schlitten ist schon sehr alt, aber immer noch schnell. Wirst du gleich sehen!“

„Du spinnst wohl, wie kann so eine alte Rostbeule schnell sein! Die Bretter haben einen Holzwurm und die Schrauben sind total verrostet. Pass bloß auf, dass du nicht bei der nächsten Abfahrt auf deinem Hosenboden rodelst. Hier, das ist ein Spitzenschlitten von heute.“ Der Junge zeigt stolz auf eine moderne rote Kunststoffschale mit einer weißen Nylonschnur.

„Wir können sofort ein Wettrodeln machen, wenn du mir nicht glaubst“, entgegnet Ellen selbstbewusst. „Wet­ten, dass mein alter rostiger Rodel schneller ist als dein neuer Superschlitten?“

O.k., lass‘ uns loslegen. Wir rodeln nebeneinander her, mal sehen, wer gewinnt.“

Beide legen sich bäuchlings auf ihre Schlitten und kratzen mit den Stiefeln ein kleines Loch in den vereisten Schnee, um sich gut abstoßen zu können. Ein anderer Junge wedelt als Startsignal mit seinem weißen Schal: „Achtung, fertig, los.“

Die Kinder sausen den Rodelberg hinunter. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Anfeuerungsrufen ihrer besten Freunde beginnt. Ellens blauer Schal und Holgers graue Pudelmütze wehen im Wind. Beide sind auf dem ersten Hang noch dicht beieinander und drücken ihre Nasen auf ihre Schlitten. Aber das letzte steile Stück bringt die klare Entscheidung: Ellens rostiger Rodel hat zwar bereits etliche Jahre auf dem Buckel, ist aber viel schneller als der moderne Kunststoffschlitten.

„Hätte ich nicht gedacht, dass du mit diesem Rostschlitten gewinnst, Glückwunsch!“ Holger ist ein guter Verlierer. „Meinst du, dein Schlitten bricht nicht zusammen, wenn wir beide darauf sitzen? Ich würde gern mal mit dir zusammen runter rodeln?“

„Klar“ –, Ellen ist sich ihrer Sache sicher. „Auf meinen Rodel kann ich mich jeden Winter verlassen!“

Der traurige Weihnachtsengel

Lautes Schluchzen drang durch die weit geöffnete Himmelspforte. Ein kleiner blonder Weihnachtsengel saß auf einer Wolke und wischte sich dicke Tränen aus dem Gesicht. Seine Stupsnase war vom vielen Schniefen ganz rot.
Die älteren und klugen Weihnachtsengel wussten, warum Gabriel, so hieß der kleine Engel, weinte. Das Christkind hatte ihm befohlen, alle Spielsachen von Saras Wunschliste in die Geschenkevorrats-kammer zurückzutragen. Die Weihnachts-wichtel sollten dort alles wieder in die Regale legen und Saras Wunschliste anschließend zerreißen.
Gabriel stellte sich vor, wie traurig Sara am Heiligen Abend sein würde, wenn sie statt der Geschenke unter dem geschmückten Weihnachtsbaum nur einen kurzen Brief vom Weihnachtsengel finden würde. „Liebe Sara, ich habe dich schon im letzten Jahr gewarnt. Du erinnerst dich an meinen Brief an eurem Weihnachtsbaum. Du hast dich nicht an die Regeln gehalten. Deshalb bekommst du in diesem Jahr keine Geschenke. Dein trauriger Weihnachts-engel.“ Noch zwei dicke Tränen kullerten über die rosigen Wangen des Engelchens und tropften auf den Himmelsfußboden.
Natürlich hatte das Christkind richtig entschieden. Die unartige Sara wollte sich im vergangenen Jahr nie an die Vorschläge des ersten Weihnachtswarnbriefes von Gabriel halten. Sara lernte nicht gut in der Schule, wollte nie üben, war oft zornig und gemein zu ihren Eltern und anderen Kindern. Sie lachte schadenfroh, wenn andere Kinder Fehler machten. Sara wusste immer alles besser, war altklug und vorlaut.
Bei diesem Benehmen wartete das Christkind nach dem ersten Brief geduldig ein Jahr ab. Es stand früh auf und schaute Sara bereits beim Frühstück zu. Dann warf es einen Blick ins unaufgeräumte Kinderzimmer. Ab und zu ging das Christkind heimlich in Saras Schulklasse und beobachtete die Kleine beim Spielen. Zum Abendessen, das Sara ewig lange hinauszögerte, um nicht ins Bett zu müssen, flog es kurz vorbei. Dann traf das Christkind die schwere Entscheidung: „Keine Weihnachtsgeschenke für Sara!“
Die älteren Weihnachtsengel kannten Gabriels Kummer. Jeder von ihnen war schon am 23. Dezember mindestens einmal so traurig gewesen. Sie alle mussten dem Christkind gehorchen, auch wenn das der allerschlimmste Befehl für die Engelchen war.
Natürlich fügte sich auch Gabriel dem Christkind. Der kleine Weihnachtsengel nahm ein sauberes weißes Taschentuch aus seinem Kleidchen, wischte sein tränennasses Gesicht ab und wandte sich der nächsten Wunschliste zu.
Dennis war lieb zu seinen Eltern und Freunden. Seine Wünsche sollten am Heiligen Abend in Erfüllung gehen. Der Weihnachtsengel Gabriel lächelte glücklich. Er stellte sich vor, wie Dennis mit seinen Eltern am heiß ersehnten Auto bastelte und die neue Musik-CD abspielte, die er sich sehnlichst gewünscht hatte.

Scherben bringen Glück

Die kleine Elfe hielt ihre Knie eng umschlungen, machte einen Katzenbuckel und schaukelte in der dicken weißen Weihnachtskugel hin und her. Dabei raschelte der glänzende Stoff ihres hübschen Kleides zur Melodie, die sie gerade sang. Ihr silberner Zauberstab kullerte im gleichen Rhythmus direkt neben ihrem kleinen Po von der einen Kugelhälfte zur anderen. Die schneeweißen Flügel klappte die Elfe im Takt der Weihnachtslieder wie ein Schmetterling auf und zu – das wirbelte ihre blonden Locken in die Luft. Die rockige Musik hatte sie sogar drei lange Federn gekostet, weil sie aus Versehen einen Purzelbaum in der Kugel geschlagen hatte.

Die Elfe reckte und streckte sich zu einigen gymnastischen Übungen. Schon Mitte November hatte sie sich in die Weihnachtskugel gezaubert, um pünktlich am Heiligen Abend eine Familie glücklich zu machen. Leider war ihr nicht klar, dass zunächst alle Kugeln, große, dicke und dünne, dicht an dicht in Papierschachteln oder großen Körben zum Verkauf ausliegen würden. Sie hatte zuvor auch nichts von riesigen Weihnachtskaufhäusern gehört, in denen die Kugeln vom Keller bis unterm Dach liegen. Seit Anfang Dezember befand sie sich nun in einem braunen Weidengeflechtkorb in der vierten Etage eines solchen Kaufhauses.

Anfangs war die Elfe tief unten im Korb, im Dunkeln. Mittlerweile war sie zum Glück schon weiter oben. Sobald die Sonne durch das große weihnachtlich geschmückte Schaufenster schien, konnte sie sogar durch ein winziges Sternchen in der Kugel über ihr hindurch blinzeln.

Manchmal sah sie dann kleine Hände, große Hände, alte Hände oder wuschelige Handschuhe. Alle hielten die Kugeln vorsichtig fest und bestaunten sie. Das brachte zwar Abwechslung, ab und zu einen kleinen ungewollten Kick, wenn eine bestaunte Kugel etwas zu unsanft wieder in den Korb gelegt wurde und mit den anderen zusammenstieß –  mehr aber nicht.

Die kleine Elfe seufzte. Nur noch zehn Tage bis Weihnachten. Sie polierte ihren Zauberstab bestimmt schon zum zehnten Mal an diesem Vormittag. Viele Menschen zwängten sich inzwischen durch die engen Gänge des Geschäftes. Manchmal schaukelte sogar der Weidenkorb, sodass es der Elfe schon ein wenig flau im Magen wurde.

Plötzlich rollten drei über ihr liegende Kugeln nacheinander über den Rand des Weidenkorbes und zersprangen in tausend kleine Glasstückchen.

„Tut mir Leid, das habe ich nicht gewollt.“ Der Mann schämte sich für sein Missgeschick.

„Ist doch nicht schlimm. Es ist ja auch sehr eng hier. Das kann schon mal passieren.“ Die freundliche Verkäuferin holte einen Besen und fegte die Scherben zusammen.

Nun lag die weiße Weihnachtskugel mit der kleinen Elfe endlich obenauf und funkelte im Sonnenlicht. Schon bald darauf packten sie zwei kleine Hände: „Omi, schau mal, die ist hübsch, die schenke ich Mutti zu Weihnachten. Ich hänge sie heimlich an unseren Weihnachtsbaum. Aber psst, nichts verraten!“

Am Heiligen Abend zauberte die kleine Elfe für ihre Familie einen Glücksmoment nach dem anderen. Jetzt wusste sie auch, warum die Menschen manchmal sagten: „Scherben bringen Glück!“




Verschneite Tannen in Aschau

Wie Eleni seine erste Schneeballschlacht machte und

Rodeln lernte

Eines Morgens wachte der kleine Elch Eleni von sei­nen Träumen auf und blickte völlig überrascht auf die weiße Wiese, die am Vortag noch grün gewesen war.

„Was soll das denn? Hat jemand in der Nacht die Wie­se mit weißer Farbe gestrichen?“

„Natürlich nicht!“, sagte der Elch-Opa. „Weißt du nichts über Schnee, der im Winter auf die Erde herabfällt, weil die Regenwolken im Himmel gefrieren?“ – Nein, das kannte Eleni noch nicht.

„Opa, was macht man im Schnee?“

„Natürlich eine Schneeball­schlacht, und man geht mit ei­nem Schlitten zum Rodeln!“

„Kommst du mit mir nach draußen, Opa?“

„Nein, Eleni, das ist eher etwas für Elch-Kinder, wie du es bist. Geh' einfach hinaus, und suche dir ein paar Freunde, mit denen du im Schnee spielen kannst. Wenn alle Kinder aufgewacht sind, wollen sie bestimmt sofort nach draußen.“

Eleni ging sehr langsam durch die weißen, weichen Schneeflocken. Seine Füße gehorchten ihm nicht immer. Manchmal rutschte er nur auf den Vorderfüßen, manchmal streikten die Hinterfüße, und manchmal versank er bis zum Bauch. Doch es machte ihm viel Spaß auf der weißen Wiese. Und schon bald bekam er eine kleine rote Nase durch die kalte Winterluft.

Bums, was war das auf ein­mal so kalt am Kinn? – Ein Schneeball hatte ihn direkt erwischt. Hinter der Tanne hörte er ein leises Kichern. Das mussten die anderen Elch-Kinder sein, wie es Opa vor­aus­gesagt hatte. Bald be­war­fen sich drei fröhliche Elche mit dicken Schneebällen.

Schließlich wurde es Eleni zu langweilig, und er bekam vier eiskalte Füße. Opa hatte ihm außer­dem etwas vom Ro­deln erzählt, und das wollte er noch heute mit den ande­ren Elch-Kindern üben.

„Kennt ihr Rodeln?“, frag­te Eleni die anderen Kin­der.

„Klar doch! Wir holen uns einen Schlitten und gehen dort zum Hügel hinauf. Dann nehmen wir An­lauf und rodeln den Hang hinunter.“

„Wer soll als Erster rodeln?“, rief ein Elch-Mädchen.

Alle meinten sofort ‘Eleni’, denn er hatte noch nie ge­rodelt.

Etwas ängstlich setzte er sich auf den Schlitten, und je schneller der Schlitten herab­schoss, desto mehr flogen seine Ohren im Winter-Wind. Das gefiel ihm so gut, dass er bis zur Dunkelheit den Hügel hinauf- und hinabklet­terte, um alles über das Rodeln zu lernen.

„Opa, Opa“, rief er, als er wieder daheim im Elch-Stall war, „das war spaßig. Morgen mache ich mit den anderen Elch-Kindern wieder eine Schneeballschlacht, und danach rodeln wir!“

„Das freut mich, Eleni“, schmunzelte der Elch-Opa, „auch ich mag den Winter mit seinen weichen Schneeflocken sehr gern.“


Verschneiter Wald

Elenis wundersame Begegnung

Eleni, das kleine Elch-Kind, sprang froh gelaunt hüpfend aus dem Stall hinaus in die weiße Winterlandschaft. Er war als erster von seinen Geschwistern wach ge­worden und wollte gleich bei Sonnenaufgang im Schnee sein. Er tollte im Wald zwischen den Bäumen herum, fiel ab und zu in einen tiefen Graben, den er natürlich nicht erkennen konnte, weil der Schnee ihn zugedeckt hatte. Dann stupste er mit seinem Geweih die Tannen an, von denen kleine Schneelawinen auf ihn herab­fielen. Bald verteilten sich viele Flocken auf seinem Winterfell. Voller Übermut wälzte er sich an­schlie­ßend in einer großen  Schneewehe und sah aus wie ein Puderzucker-Elch-Kind aus der Weih­­­­nachts­bäckerei.

Mitten im Spiel hielt Eleni plötzlich inne, stellte die Ohren steil auf und lauschte. Er hörte ein leises Kling – Kling, das immer näher an ihn herankam. Da war es wieder: Kling – Kling – Kling. Der kleine Elch ver­steckte sich hinter dem dick­sten Baum im Wald und wartete. Seine Neugier siegte jedoch bald über sein Herzklopfen.

„Brr“, rief ein rot gekleideter Mann, „brr, Rudolf, warte Sausewind. Wir wollen eine kleine Pause machen und uns in der Sonne aufwärmen, bevor wir die Kinder auf der ganzen Welt besuchen.“

Elenis Nase lugte etwas neben dem Baum hervor. Er wollte sehen, wer das war, und so konnte er von Glöckchen, einem anderen Rentier, entdeckt wer­den. Das schnaubte laut in seine Richtung, sodass der Mann mit dem weißen Bart und dicken Bauch schnell auf Eleni aufmerksam wurde.

„Hallo, Eleni“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, „du bist aber schon früh im Wald.“

Eleni erschrak fürchterlich. „Woher weißt du meinen Namen, wir kennen uns doch gar nicht?“

„Natürlich kenne ich dich, ich bin der Santa, der alles weiß, was passiert.“

„Der Santa?!“ – Eleni sprach das Wort sehr nachdenklich und ungläubig aus. „Wirklich der Santa, du bist der Santa Claus, der Nikolaus?“

„Ja, Eleni, ich bin es tatsächlich, du hast nicht geglaubt, dass es mich gibt, oder?“

Eleni schämte sich für seine Frage, seine Ohren hingen schlapp herunter, um die leichte Röte in seinem Gesicht zu verbergen.

„Aber warum bist du hier, du fliegst doch sonst mit deinen Rentieren und deinem Schlitten durch die Luft, dabei können wir dich nie sehen.“

„Ja, das stimmt, wir wollten eine kleine Pause machen und uns etwas aufwärmen. Denn heute ist der 6. Dezember, und du weißt, dass wir an diesem Tag die Kinder besuchen, um sie mit kleinen Geschenken zu erfreuen. Vorausgesetzt, sie sind brav ge­wesen. Manchmal, das kommt glücklicher­weise selten vor, schimpfe ich mit ihnen, wenn in meinem goldenen Buch Dinge stehen, die Kinder besser nicht machen sollten.“

„Stehe ich auch in diesem goldenen Buch“, fragte Eleni leise, denn er wusste, zuweilen hatte er etwas Dummes angestellt. Die Erwachsenen ermahnten ihn deshalb verschiedentlich.

„Ich will einmal sehen, ja hier auf Seite 199 da steht: ‚Eleni will nicht immer das Moos oder Laub fressen, das wir ihm zeigen. Außerdem ist er sehr wasserscheu und will nicht im See schwimmen.‘ Stimmt das?“

Eleni nickte kaum merk­lich mit dem Kopf und murmelte ein leises ‚Ja‘ dazu. „Ich werde mich bestimmt ändern“, versicherte er eifrig, „echtes Elch-Ehrenwort.“

„Das hoffe ich, Eleni, und jetzt, nachdem du mich persön­lich kennen gelernt hast, fällt es dir bestimmt viel leichter, alles besser zu machen. So, ich muss mich nun um meine sechs Rentiere küm­mern. Sie haben Hunger und Durst, und unsere Nacht ist so lang. Wenn du willst, darfst du dir dein Geschenk aus dem Sack holen, der da liegt, dann muss ich mich nicht durch euren engen Kamin zwängen. Letztes Jahr bin ich darin fast stecken geblieben. Und ich glaube, mein Bauch ist dieses Jahr nach der Honig­milch noch rundlicher geworden.“

„Hast du überhaupt etwas für Elch-Kinder dabei?“

„Aber klar doch!“ Santa tippte mit seinem Zeigefinger auf den Sack. Dieser blähte sich sofort auf. Eleni staunte und öffnete die dicke braune Kordel. Frisches Laub, leckere Tannen­zwei­ge, Kastanien und Eicheln sowie grünes Moos lagen darin. Er nahm sich etwas davon heraus und strahlte über das ganze Gesicht. Es war genau das Geschenk, das er sich so sehr für heute gewünscht hatte. Schmatzend setzte er sich in den Schnee und beobachtete Santa Claus bei seiner Arbeit. Welch ein Glück, dass er heute so früh in den Wald gelau­fen war. Santa persönlich, nein, das würde ihm keiner glauben!

„Santa, was machst du eigentlich, wenn die Nikolausnacht vorüber ist?“, fragte er gespannt.

„Dann lenke ich meinen Schlitten zurück in die Wolken, lasse die Rentiere aus­ru­hen, bespreche die Nacht mit meiner Frau, mit Wichteln und Elfen. Am schönsten ist es, wenn ich mich endlich von den Strapazen der langen Reise auf dem Sofa ausruhen kann. Leider dauert das Nichtstun nicht allzu lange, denn das neue goldene Buch muss geschrieben, ebenso die Reiseroute für das nächste Jahr geplant werden, damit mir am Nikolaustag kein Fehler unterläuft.“

„Ach so“, sagte Eleni gedehnt, „ich dachte, du hättest das ganze Jahr über frei und würdest nur an einem Tag arbeiten. Das werde ich den anderen Elch-Kindern erzählen, wenn sie kommen. Darf ich das, Santa?“

„Sicher“, antwortete dieser und blickte auf seine Uhr. „Ach du lieber Schreck, ich muss los, sonst komme ich zu spät.“

Er lockte die Rentiere zum Schlitten, spannte sie geschwind an und rief das Zauberwort, mit dem der Schlitten von der Erde abhob. Viele kleine goldene Sternchen fielen auf Eleni herab, als Santa Claus seine Ab­schieds­­run­de über ihm drehte und ihm ein letztes Mal fröhlich zuwinkte, um dann in den dicken Wolken zu verschwinden.

Kastanien

Tief in Gedanken versunken saß das kleine Elch-Kind vor seinem Geschenk, kaute an den frischen Kastanien und dachte über seine Begegnung mit Santa nach. Seine Augen strahlten eine große Zufriedenheit aus, dass er so viel Glück gehabt hatte, den Nikolaus und seine Rentiere persönlich kennen zu lernen.

Weihnachtsmaus Speedy

Rock 'n Roll unterm Weihnachtsbaum

Lilly blinzelte verschlafen in die winterliche Morgensonne, die durch den Spalt ihres Rollos schien. Die warmen Strahlen kitzelten sie an ihren kleinen Zehen. Plötzlich hörte Lilly leise Musik. Sie schlich durch den Korridor zum Wohnzimmer. Durch die Türscheibe des Wohnzimmers konnte sie dummerweise nichts sehen. Ihre Eltern hatten eine Decke davor gehängt - schließlich sollte das Christkind in Ruhe die Geschenke einpacken können.

Obwohl Lilly wusste, dass sie das Christkind verscheuchen könnte, zog sie die Musik irgendwie an. Sie riskierte einen Blick. Im fast dunklen Wohnzimmer erkannte sie einen großen Weihnachtsbaum, unter dem viele bunte Geschenke lagen.

Plötzlich lief etwas über ihre nackten Füße. Lilly wich erschrocken zurück. Aber ihre Neugier war größer als ihre Angst und sie tastete sich langsam zum Weihnachtsbaum vor. Sie starrte in die Dunkelheit.

„Halt! Bewegte sich da nicht etwas? Dort - unter dem Weihnachtsbaum.“ Lilly stockte das Herz vor Schreck und sie war hellwach. Wer war das im Wohnzimmer? War das etwa das Christkind? Viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum.

Das Gesicht konnte sie nicht sehen, nur zwei dunkle Augen - zwischen den Geschenkpäckchen. Lilly blieb der Atem weg. Sollte sie ihre Eltern rufen? Sie zitterte am ganzen Körper, als die Augen in ihre Richtung sahen.

„Oh nein, bitte, bitte nicht. Ich wollte dich doch nicht verscheuchen“, schluchzte sie leise. Lilly hatte das Christkind so gern und sich das ganze Jahr über Mühe gegeben, brav zu sein. Tränen kullerten über ihre Wangen. Was sollte sie bloß tun?

Die Augen sahen wieder in ihre Richtung. Was jetzt? Lilly kroch auf dem Fußboden entlang hinter den Fernsehsessel. Aber die kleine dunkle Gestalt lief hinter ihr her.

„Psst, leise. Verrate uns nicht. Wir haben gerade so schön getanzt.“

Lilly wagte einen kurzen Blick, klammerte sich dabei an der Sessellehne fest.

„Hallo, Kleine, du musst keine Angst vor uns haben!“

Lilly fasste ihren ganzen Mut zusammen: „Uns? - Wer seid ihr?“ Ihre Stimme war kaum zu hören.

„Wir heißen Tricksie und Speedy“, die Antwort kam prompt.

„Also, nicht das Christkind?“

„Sehen wir etwa so aus?“

„Hm, ich weiß nicht.“ Lilly überlegte: „Das Christkind hat blonde Locken, ein schönes weißes Kleid an, goldene Sterne sind auch drauf ... in meinem Weihnachtsbuch.“

„Na also! Wir sind grau und weiß und haben ein Fell. Schau her.“ Das nächste braune Knopfaugenpaar schaute unter den Tannenzweigen hervor.

„Komm aus deinem Versteck heraus, Speedy, die Kleine ist o.k. Ein kleiner Angsthase, so wie du.“

„Was macht ihr denn zwischen den Weihnachtsgeschenken?“

„Uns war es zu kalt draußen im Schnee, da haben wir uns hereingeschlichen, als dein Vater die Vögel gefüttert hat. Dann haben wir super viele Geschenke gesehen.“

„Geschenke? Seid ihr verrückt! Ihr dürft doch nicht die Geschenke öffnen.“

„War ja bis jetzt erst eins. Hier schau, diese CD lag unterm Weihnachtsbaum. Na ja, vorher war noch so ’n Papier drum herum und eine goldene Kordel. Wir haben alles ein bisschen angenagt, und - da war sie. Die Musik ist stark. Wir hören nicht alles – keine Katzenmusik.“

„Seid ihr verrückt, ihr könnt doch nicht einfach hier hereinplatzen, das Christkind verscheuchen und die Geschenke aufmachen. Meine Eltern glauben mir nicht, dass ihr das wart. Ich weiß schon, was kommt: Stubenarrest und Fernsehverbot! Vielleicht nicht gleich eine ganze Woche, weil Weihnachten ist. Da soll man ja friedlich miteinander sein, aber einige Tage reichen mir trotzdem.“

„Hab dich nicht so. Die Musik ist sooo cool. Soll’n wir dir zeigen, wie wir tanzen?

„Na gut, aber macht die Musik leiser. Mami und Papi werden nicht mehr lange schlafen. Heute ist Heiligabend und wir erwarten viele Gäste. Die beiden haben noch Megastress. Also macht schnell. Wenn ich schon Ärger bekomme, dann soll sich das wenigstens gelohnt haben.“

„Sag mal, wie heißt du überhaupt?“, fragte Tricksie.

„Lilly.“

„Netter Name. So Lilly, jetzt zeigen wir dir einen echten Rock and Roll.“ Let me be your teddy bear ... Die Musik dröhnte durch Wohnzimmer.

Tricksie und Speedy rockten so ungestüm, dass die Kugeln am Weihnachtsbaum im Takt hin und her pendelten. Auch Lilly hielt es nicht mehr lange hinter dem sicheren Sessel aus. Sie klatschte in die Hände, wackelte mit ihrem kleinen Po im Takt hin und her und tanzte mit den Mäusen um den Weihnachtsbaum herum. Die drei Rock and Roll-Fans sahen jedoch nicht, dass noch jemand ausgelassen mittanzte. Speedy und Tricksie japsten nach Luft. Lilly schnaufte und schwitzte.

„Vielleicht tanzen meine Eltern heute Abend mit mir! Aber: Ihr müsst mir schnell helfen. Wir packen die CD wieder ein, so dass sie nichts merken. Danach lasse ich euch durch die Balkontür raus und ihr sucht euch ein anderes warmes Plätzchen. Morgen früh treffen wir uns dann wieder. Ach, ich freue mich schon auf den Heiligabend. Nur gut, dass wir mit unserem Rock and Roll nicht das Christkind verjagt haben – das kann jetzt noch die restlichen Geschenke in Ruhe einpacken.“

Ein Augenpaar lächelte von der Decke herab. Und ein paar winzige Schweißperlen fielen aus den blonden Locken auf ein weißes Kleid mit goldenen Sternchen.


Eiszapfen in Breitachklamm

Vom eitlen Eiszapfen

„Wetten, dass ich bald länger und viel schöner bin als ihr es seid“, prahlte der Eiszapfen Eiteljörg vor allen seinen Freunden.

„Na und, das macht mir nichts aus“, Zalona, seine Nachbarin zur Linken, war vollkommen zufrieden mit ihren glitzernden Spitzen. „Ich will keineswegs wachsen, denn dann würde mich die Mittagssonne zur Wasserpfütze schmelzen. Und aus wär’s mit mir.“

„Ach, so ein Quatsch. Im Winter ist die Sonne zu schwach dazu. Ich bleibe nicht so ein Zwerg wie du.

Eiteljörg warf Zalona einen verächtlichen Blick zu.

„Denk doch mal daran, wie lang die Eiszapfen in den Bergschluchten sind. Da scheint auch die Sonne und sie sind meterlang. So gewaltig wie die Eiszapfen aus den Bergen will ich werden. Zu ihnen kommen die Menschen in Scharen, um ihre winterliche Eispracht zu bewundern. Sie machen Fotos von den allerschönsten. Du kannst ja unscheinbar bleiben. Aber ich nicht.“

Der eitle Eiszapfen war schon jetzt verzückt von seinem eigenen Spiegelbild.

„Du hast wirklich keine Ahnung. In den Bergen ist es viel kälter als hier und die Sonne scheint nicht in jeden Winkel einer Schlucht hinein, sodass die Eiszapfen in Ruhe wachsen können. Aber hier am Kühlturm ist das nicht so. Wenn wir noch länger werden, erreichen uns die Sonnenstrahlen und wir werden schnell als kleine Pfützen im Boden versickern oder in winzige Stücke zerbrechen. Berühmt sein – ich brauche das nicht, sondern ich bin lieber den Winter über mit meinen Nachbarn zusammen.“

Jetzt mischte sich der rechte Eiszapfennachbar Monty in die Diskussion ein.

„Eiteljörg, du solltest besser im Schatten bleiben und auf Zalona hören. Das ist kein dummes Weibergeschwätz.“

„Nicht mit mir. Ich will in ein Fotomagazin.“

Der eitle Eiszapfen dehnte sich nach links, um Unebenheiten auszugleichen, nach rechts, um einen winzigen herabfallenden Wassertropfen zu erhaschen und streckte sich wieder und wieder um einige Zentimeter nach unten. Dabei wurde er immer dünner und sein Ende glich bald einem durchsichtigen Bindfaden. Während seiner Dehn- und Streckübungen war die Sonne höher gestiegen und in spätestens einer Stunde würde sie ihn mit ihren Strahlen erreichen.

Seine Nachbarn beobachteten ihn bei den akrobatischen Übungen, hatten aber wenig Lust, ihn weiterhin zu warnen. Sie unterhielten sich über dieses und jenes, lachten miteinander und freuten sich auf das nahende Weihnachtsfest.

Plötzlich wurde ihre Unterredung durch einen lauten Knall unterbrochen. Viele tausend kleine Eiskristalle lagen zu ihren Eiszapfenspitzen auf dem Boden.

Eiteljörg war durch seinen Wunsch nach Ruhm so dünn geworden, dass ihn der erste Sonnenstrahl sofort zerbrochen hatte.




Eis auf Dattel-Hamm-Kanal

Kleine Eisscholle Eilika

Es war ein klarer, sonniger Wintermorgen und die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. So konnten sich auf dem Kanal kleine Eisschollen bilden. Das hatte es schon lange nicht mehr ge­­geben.

Die munteren Eisschollen tanzten mit der Strömung im Hafenbecken herum. Sie eckten ab und zu an rostigen Spundwänden an. Es krachte, wenn sie auf einen dicken Ufer­stein trafen, und es knirschte leise, wenn sie den Raureif von den Gräsern an der anderen Kanalseite abstreiften.

Eine vorwitzige Eis­scholle, der es zu langweilig war, wollte mit den anderen eine Wette abschließen. Wie viele Tage würde es wohl dauern, bis sie das Meer erreicht hätten? Oder sollten es gar Wochen werden?

„Das wird eine Reise mit großem Tempo, denn Tempo ist überall gefragt“, prahlte die kleine Scholle Askan altklug.

„Wieso mit viel Tempo zum Meer schwimmen? Ich habe gehört, dass es Kindern viel Spaß macht uns zuzusehen“, meinte Eilika. „Sie lieben es, wenn wir gemütlich dahinschwimmen und in der Sonne wie Kristalle glänzen. Ab und zu möchten sie uns anfassen, um zu messen wie dick wir schon sind. Auf all das willst du nur wegen einer Wette verzichten?“

„Klar, das ist doch Eis­schol­len-Geschwätz von gestern. Los, wer macht mit? Schwimmt neben mich, damit wir auf gleicher Höhe sind!“

Etwa zehn Eisschollen wollten mit Askan, der eiligen Eisscholle wetten. Eine dicke meinte, es würde eine Woche dauern, eine läng­liche Scholle glaubte, zehn Tage seien sie unter­wegs.

Andere Eis­schollen wiederum vermuteten, die Sonne würde sie weg­schmel­zen. Deshalb könnten sie nie das Meer erreichen. Und hui, los ging’s. Sie wirbelten herum, wurden schneller und schneller. Nachdem sie unter zwei Kanalbrücken hindurchgerast waren, konnte man sie vom Hafenbecken aus nicht mehr sehen.

Währenddessen trudelte Eilika mit einer Hand voll anderer zurückgebliebener Eisschollen gemütlich im Hafenbecken herum. Sie sonnte sich, um die Wasser­perlen zu zählen, die auf ihrer Oberfläche glänz­ten. Dann schwamm sie wieder zurück ans schattige Ufer, um zu gefrieren und auf Kinder zu warten.

Und schon waren die ersten Kinder zu hören. Ein Junge und ein Mädchen liefen geradewegs auf Eilika zu.

„Sieh mal, wie schön diese Eisscholle ist – und wie dick. Erst eine superkalte Nacht hatten wir. Ich habe noch nie Eisschollen auf dem Kanal gesehen, seit ich hier wohne. Ich hol sie mal raus. – Toll ist die. Guck mal, sie atmet kleine Luftblasen und man kann sich in ihr spiegeln.“

Eine kleine Hand glitt über Eilika hinweg und streichelte sie zärtlich.

Eilika funkelte die beiden Kinder an, was das Zeug hergab. Sie zeigte sich von ihrer dicksten und glänzendsten Seite. Das, was sie an diesem Morgen besonders schön machte, waren die strahlenden und staunenden Kinderaugen und die kleine Stupsnase, die sich in ihr spiegelten.

Die kleine Eisscholle war froh, auf die Tempowette verzichtet zu haben. Tempo statt das wunderschöne Gefühl, von Kindern bestaunt zu werden. Lieber wollte sie hier bleiben, die Kinder erfreuen und bei wärmeren Temperaturen vor Glück dahinschmelzen.

Schnee auf Steinen

Engel

Pechtag für den Schutzengel

Heute, am vierten Adventssonntag, beschützte Raphael, der kleine Engel, wieder Leonore, über die er seit ihrer Geburt die Schwingen ausgebreitet hatte. Er war sozusagen ihr „himmlischer Zwilling“ geworden und folgte ihr auf Schritt und Tritt mit Engelsgeduld. Manchmal allerdings stellte Leonore ihren Schutzengel auf harte Proben. Der hilfsbereite Raphael bewahrte den kleinen Wildfang zwar immer vor großem Unheil, zog sich aber bei seinen Rettungsaktionen mitunter selbst einige kleinere Blessuren zu. Ab und zu musste er auch ein gutes Wort für Leonore beim lieben Gott einlegen, wenn sie unrecht gehandelt hatte.

Gerade ging wieder ein Hilferuf von seinem Schützling bei ihm ein:

„Lieber Schutzengel. Bitte komm sofort zum Baggersee! Ich bin im Eis eingebrochen und komme allein nicht wieder raus. Eigentlich durfte ich nicht aufs Eis. Bitte hilf mir! Schnell!“

Raphael flog los und erreichte die Eisfläche fast mit Überschallgeschwindigkeit. Er schwebte niedrig über ihr, um sie besser am Arm packen und herauszuziehen zu können. Dabei tunkte er versehentlich seine Flügelspitzen ins eiskalte Wasser. Kurz darauf spielten kleine Eiszapfen an seinen Flügelspitzen eine leise Melodie.

Desto flinker Raphael durch die Luft flitzte, desto lauter wurde die Eiszapfenmusik. Der himmlische Bodyguard bekam alsbald Kopfschmerzen von dem Eiszapfensound. Deshalb hielt er seine ausgebreiteten Flügel in die Sonne, um die Zapfen zu schmelzen. Nur einen behielt er als kleine Erfrischung zurück. Kaum hatte Raphael den Eiszapfen zu Ende gelutscht, machte Leonore den nächsten Unfug.

„Heute ist der 4. Advent und ich werde alle Kerzen anzünden“, dachte die Kleine. Dabei war ihr das Streichholz für die 4. Kerze brennend in den Kranz gefallen. Leonore wollte das Feuer mit dem Wasser aus der Blumenvase löschen, denn sie durfte die Kerzen nicht anzünden, ohne dass ein Erwachsener im Raum war. Leider reichte das Wasser nicht und die Tischdecke brannte nun ebenfalls. Leonore versteckte sich zuerst hinter dem Sofa. Als aber die Funken auf die Sofakissen übersprangen, lief sie schreiend zu ihrer Mutter in die Küche.

„Mamiiiiiii! Hilfe, es brennt! Ich wollte nur die Kerzen anzünden. Ein Hölzchen ist mir in den Kranz gefallen.“

Ihr Schutzengel musste zusammen mit der herbeigerufenen Feuerwehr eingreifen. Da er für die Menschen unsichtbar war, traf ihn plötzlich ein dicker Wasserstrahl aus dem Feuerwehrschlauch. Raphael ritt wie Münchhausen auf der Kanonenkugel auf dem Strahl durch das Wohnzimmer. Damit nicht genug. Ein zweiter Wasserstrahl erwischte ihn von rechts und der Engel purzelte kopfüber durch den Raum. Verdutzt landete er auf seinem Engelspo in einer Ecke. Die Falten seines Kleidchens hingen tropfnass herunter, ab und zu hatte es hässliche Brandflecke. Raphaels Locken sahen aus wie lange, gekochte Spagettis. Und sein Heiligenschein hatte ein paar dicke Rußflecken abbekommen.

„Oh nein! Nun muss ich mich komplett umziehen und dann noch meinen Heiligenschein wieder auf Hochglanz polieren.“

Raphaels riesige dunkle Augen, denen sonst eher die Spitzbübischkeit anzusehen war, glänzten verdächtig. Fast hätte der Schutzengel im Duett mit Leonore geweint. „So ein verflixter Pechtag. Eigentlich wollte ich das neue blaue Kleid erst am Heiligen Abend anziehen und nicht schon heute. Oder? Mir kommt da eine Idee! Leonores Mutter hat doch einen Wäschetrockner.“

Raphael schwebte in den Keller, stopfte sein Kleid in den Trockner und wartete ungeduldig auf das Programmende.

„Ach du liebe Güte! Mein schönes Kleid!“, Raphael war entsetzt. Der kleine Schutzengel hatte den falschen Knopf gedrückt. Sein Kleid kam ungefähr um zwei Nummern geschrumpft wieder aus dem Trockner heraus und war eng wie eine Wurstpelle. Raphael befürchtete, die Nähte platzten beim nächsten Einsatz.

Glücklicherweise schlief Leonore nach der ganzen Aufregung tief und fest in ihrem Bett.

Währenddessen stopfte ihr Schutzengel die Löcher im Kleid und wartete an ihrer Seite sehnsüchtig auf das Ende dieses anstrengenden Adventstages. Morgen hatte er frei. Zuerst musste er sich nach einem anderen Kleid umsehen. Anschließend wollte er seinen eigenen Wunschzettel ans Christkind schreiben. Raphael überlegte schon:

„Liebes Christkind,

sicher kennst du mich noch. Ich habe zusammen mit den Weihnachtsengeln die Sterne geputzt, Plätzchen gebacken und viele Wunschzettel der Kinder entziffert.

Du weißt, dass ich unter keinen Umständen von Leonores Seite weiche und meine Aufgaben als Schutzengel gewissenhaft erfülle. Manchmal gerate ich als dienender Geist allerdings selbst in Not. Und deshalb habe ich nur einen einzigen Wunsch an dich: Bitte schicke mir meinen eigenen Schutzengel!“

Dein Raphael

Schneekante

Dendri, die Schneeflocke

Minus sieben Grad. Die kleinen dünnen Schneenadeln versammeln sich an der Absprungrampe hoch oben über der Erde. Sie warten auf das Kommando von Reif, der ihre Reihenfolge genau festlegt. Dann springen die kleinen weißen Wesen, stürzen sich lachend kopfüber hinab. Sie wirbeln durch den Wind wieder nach oben, tanzen ein bisschen zusammen in der Luft. Die dünnen Schneenadeln verhaken sich fest ineinander und kommen so in einer lustigen Schar auf die ersten hohen Bergspitzen, die sie mit einem weißen Häubchen verzieren.

„Schau, Mutti, es schneit.“

Die blauen Kinderaugen strahlen, und eine kleine Stups­nase hinterlässt einen winzigen Fleck an der Fensterscheibe.

„Hoffentlich kommen noch mehr Schneeflocken. Dann hole ich meinen Schlitten aus dem Keller. Endlich Weihnachten mit Schnee.“

Im Himmel wird es noch kälter. Jetzt sind die sternförmigen Schneekristalle an der Reihe. Sie springen immer ab minus 14 Grad auf die Erde hinab. Aber an der Rampe gibt es heute ausnahmsweise eine riesige weiße Schlange - Schneeflocken-Stau.

Dendri, der Schneekristall-Junge, hat Angst zu springen. Er umklammert das gefro­re­ne Geländer.

„Los, Dendri, mach schon, jetzt sind wir dran. Die Schneenadeln sind schon gesprungen und auch die Schneeplättchen. Mach schon!“, rufen die anderen Schneekristalle hinter ihm ungeduldig.

„Nein, ich will nicht. Ich will nicht matschig und hässlich wer­den, sondern pulvrig bleiben. Ich springe nicht,“ kommt es trotzig von Dendri zurück.

Immer länger wird die weiße Warteschlange der Schnee­kristalle. Einige haben sich auf der Absprungrampe zu schönen Sternen verhakt. Andere stehen wartend hintereinander.

„Komm, Dendri, wir springen zusammen ab.“ Das Schneekristall-Mädchen ist mutig. „Wir springen bei ‚drei‘, in Richtung Süden. Dorthin, wo die höchsten Berge sind. Dann bleiben wir pulvrig. Ehrenwort. In 2000 Metern Höhe sehen wir besonders schön aus, wenn wir uns verhaken. Wie ein Stern, mit ganz vielen Zacken.“

„Und du bist sicher, dass wir nicht matschig werden?“ Dendri denkt angestrengt über den Vorschlag des Mädchens nach.

„Ja, ganz sicher sogar. Oben auf den Bergen ist es sehr kalt. Wir bleiben dort zusammen liegen. Vielleicht findet uns ein Kind und macht einen Schneeball aus uns. Oder wir verhaken uns mit anderen Schneekristallen und werden meterdick. Dann können die Kinder auf uns rodeln. Du willst ihnen doch wohl nicht die Weihnachtstage verderben. Denk an die vielen Kinder, die sonst ihre neuen Schlitten nicht ausprobieren können. Die sind dann sicher traurig. Willst du daran Schuld sein?“

Das will Schneekristall-Dendri natürlich nicht. Er reicht dem Mädchen seine schönste Spitze und hakt sich fest bei ihr ein. Dann tanzen beide zusammen auf die Berggipfel zu, um sie mit neuem Pulverschnee zu bedecken.

Bergwelt um Oberstdorf

Alte Kirche Brechten

Braunes Langohr rettet Weihnachtsbaum

 

Draußen ist es fast dunkel und die Kinder warten aufgeregt auf das Christkind. Die Fenster im Dorf sind festlich geschmückt und in den Öfen brutzelt das Abendessen. Bald läuten die Kirchenglocken und ruft alle zum Weihnachtsgottesdienst herbei. Die holzgeschnitzten Bänke sind kurz darauf voll besetzt. Und in den Seitenflügeln drängeln sich große und kleine Gottesdienstbesucher, die keinen Sitzplatz mehr gefunden haben. Viele Wachslichter an der großen Tanne im Altarraum tauchen alles in ein warmes, gemütliches Licht.

Als der Pfarrer die Weihnachtsgeschichte erzählt, flattert plötzlich etwas Lautloses um die Spitze der geschmückten Tanne herum. Immer heftiger schlagen die Flügel, die nur als dunkler Schatten zu erkennen sind. Doch keiner in der Kirche schaut so weit nach oben, um das zu bemerken. Alle lauschen den Worten des Pfarrers oder hängen ihren weihnachtlichen Gedanken nach.

Es hilft nichts, das Braune Langohr muss direkt vor dem Gesicht des Pfarrers vorbeifliegen, wenn es die Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Im Ruderflug segelt es nach unten. Es bewegt dabei die Flügel nach unten und vorwärts, zurück und wieder aufwärts. Dann steht es für einen kurzen Augenblick im Rüttelflug in der Luft, direkt vor dem Mikrophon – wie ein Hubschrauber – und fliegt wieder hoch zur Tannenspitze.

 

Für einen Moment verstummt der Pfarrer, dann schmunzelt er: „Liebe Gemeinde, es ist zwar ungewöhnlich, aber ich glaube, wir müssen noch einen Gast in diesem Weihnachtsgottesdienst begrüßen. Wenn ich mich nicht irre, war das gerade eine Fledermaus vor meinem Gesicht. Ich glaube es war ein Braunes Langohr.“

Er blickt nach oben zur Tannenspitze und weicht erschrocken einen Schritt zurück. – „Der Baum brennt! Bitte keine Aufregung, bleiben Sie alle auf Ihren Plätzen. Ich hole schnell eine Leiter und einen Eimer mit Wasser. Das haben wir gleich.“

Der Pfarrer eilt mit zwei Helfern in den Nebenraum. Währenddessen flattert die Fledermaus zwischen Tanne und Altar hin und her, als wollte sie damit alle Gottesdienstbesucher auf die Flammen aufmerksam machen.

Glücklicherweise ist das Feuer bald gelöscht. Der Gottesdienst endet mit dem Segen für die Gemeinde und für das neue fliegende Gemeindeglied, das solange im Winter­quartier in der Kirche bleiben darf, bis die Tanne Mitte Januar hinausgetragen wird. Und bis dahin, verspricht der Pfarrer, hat er für das Braune Langohr ein warmes Quartier, einen Fledermauskasten aus Holz und Dachpappe, gebaut. Selbstverständ­lich soll das Zuhause nahe der Dorfkirche hängen.

Und noch etwas Ungewöhnliches geschieht an diesem Abend: Die Kinder fragen auf dem Heimweg nicht, ob das Christkind schon die Geschenke ge­bracht hat und wie viele es wohl sein mögen. Alles dreht sich nur um die Fledermaus

– wie ein Braunes Langohr aussieht,

– was es frisst,

– wo eine Fledermaus schläft,

– wie ein Fledermaushaus gebaut wird,

– wo der Pfarrer es wohl aufhängt,

– wie man zum Fledermausfreund werden kann und

– warum die Chinesen die Fledermaus mit „fu“ (Glück) bezeichnen.

Und so weiter – und so weiter...




Bratwurst

Gute Träume kommen in den Himmel

Zur Weihnachtszeit war im Himmel wieder einmal Hochkonjunktur bei den Traumengeln. Sie holten kleine Schachteln aus den Regalen, nahmen winzige Kärtchen heraus und bestäubten sie mit goldenem Feenstaub, damit die guten Träume die Karten verlassen und in die Köpfe der Menschen gelangen konnten.

Die blauen Schachteln im Regal waren für die Jungen, die roten für die Mädchen und die grünen für die Erwachsenen. Alle enthielten einen unvorstellbar großen Schatz schöner Weihnachts­träume: A wie Traum von leckeren Anisplätzchen, B wie Traum von Bratwurst, G wie Glühweintraum oder traumhafte Geschenke, K wie Kuss vom Weihnachtsmann oder W wie Traum vom Weihnachtsbaum stand in goldener Schrift auf den Karteikärtchen.

Die Traumengel schickten jede Nacht unzählige gute Träume auf die Erde und freuten sich, wenn die Menschen ihren Freunden am nächsten Tag den schönen Traum erzählten. Während der Traumzeit setzten sie sich jedes Mal auf die Bettkante und warteten das kleine Lächeln im Gesicht des schlafenden Menschen ab. Nach dem Lächeln schickte der Traumengel den guten Traum wieder auf das Kärtchen zurück und neuer goldener Feenstaub lag auf den Kopfkissen. Die Traumengel sammelten den Staub in einem winzigen Beutel und füllten ihn am nächsten Morgen in eine riesige, glänzende Kristallkugel im Himmel. In der folgenden Nacht rollten die Traumengel die Kristallkugel solange hin und her, bis genügend Feenstaub für die benötigten guten Traumkärtchen herausgefallen war.

Leider gab es etwas abseits im Himmel noch ein Regal, in dem nur schwarze Schachteln standen. Diese enthielten die schlimmsten Albträume, nach Alphabet geordnet: A für Attentat, B für Blutbad, G für Grausamkeit, K für Kriege und Z für Zuchthaus.

Insbesondere in der Weihnachtszeit streuten die Traumengel nur ungern schwarzen Feenstaub auf ein Albtraumkärtchen, damit der Traum geträumt werden konnte. Böse Träume schickten sie allen Menschen, die im vergangenen Jahr betrogen, gelogen, gestohlen und gemordet hatten. Die Traumengel mussten während des Albtraums nicht auf der Bettkante sitzen bleiben und das fürchterliche Traumende abwarten. Sobald der schlechte Traum die Karte verlassen hatte und vom Menschen geträumt worden war, warfen die Traumengel das Albtraumkärtchen in einen großen Ofen. Dort verbrannten alle Karten zu schwarzem Feenstaub, den die Traumengel in einem hässlichen Fass aufbewahrten. Glücklicherweise konnte kein Alptraum auf seine Karteikarte zurück und jeder wurde nur ein einziges Mal geträumt.

 

Die Traumengel vergossen immer ein paar Tränen, wenn sie in der Weihnachtszeit ein Albtraumkärtchen bestäuben und verschicken mussten. Aber sie freuten sich Jahr für Jahr, dass die Kärtchen in den schwarzen Schachteln weniger wurden. Und alle Traumengel im Himmel träumten jede Nacht davon, irgendwann nur blaue, rote und grüne Schachteln mit guten Träumen in den Regalen zu haben.


Das Adventsfenster

Im hintersten Winkel des kleinen Dorfes stand ein altes Bauernhaus, zu dem die Kinder immer Hexenhaus sagten. Im Haus war es meist finster. Im Vorgarten stand ein alter Baum, in den einmal der Blitz eingeschlagen hatte. Von weitem sah es so aus, als wohne niemand in dem Haus. Ab und zu ging jedoch eine alte Frau über den Hof, eine schwarze Katze saß im Garten, und an der Wäscheleine hing blitzsaubere Wäsche.

„Na ja, eine Katze gehört zur Hexe, auch zu einer reinlichen“, meinten Groß und Klein. Und einen Kräutergarten müsse jede Hexe haben, um einen Zaubertrank zu mischen.

In Wirklichkeit hatte sich jedoch niemand die Mühe gemacht, die alte Frau näher kennen zu lernen. Allen gruselte es, wenn sie wild mit den Armen gestikulierte oder vorbeigehende Spaziergänger stammelnd grüßte. „Böse Zauberformeln“, meinten die meisten. „Macht besser einen großen Bogen um das Bauernhaus“, rieten besorgte Eltern ihren Kindern.

Nun schien sich aber Ungewöhnliches im Hexenhaus zu ereignen. Ein Fenster war mit Tannengrün, Strohsternen und roten Kerzen geschmückt. Seit dem 1. Advent klebte sogar eine große 5 auf der Scheibe.

„Ein neuer magischer Zauber?“, fragten sich einige Spaziergänger. Aber die meisten wussten bereits, dass die Hexe in der Adventszeit zu den 23 Menschen gehörte, die zwischen dem 1. und 23. Dezember alle Dorfbewohner zur fröhlichen Zusammenkunft einluden. Zum erleuchteten „Fenster im Advent“ sollte jeder gute Laune und eine große Tasse für ein heißes Getränk mitbringen. Während des abendlichen Zusammenseins wollten alle Weihnachtslieder singen oder eine Adventsgeschichte hören.

Am 5. Dezember machten sich viele Dorfbewohner auf den Weg zum Hexenhaus. Fast alle hatten ein flaues Gefühl im Magen. Die Kinder hielten sich ängstlich an den Händen, waren aber neugierig, wie die Hexe aus der Nähe aussah.

Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich eine große Menschenschar unter dem hell erleuchteten Fenster am Hexenhaus versammelt. Die Hexe, eine alte Frau, stand vor einem riesigen Kessel mit einem dampfenden roten Getränk. Auf einem Tisch unter dem beleuchteten Fenster dufteten mit Schokolade oder bunten Zuckerstreuseln überzogene Weihnachtskekse.

„Bestimmt Fledermausblut“, meinten größere Kinder mit Hexenerfahrung. „Mit den Keksen will sie uns locken, damit wir immer wieder zu ihr kommen und sie uns dann einsperren und essen kann – wie im Märchen von Hänsel und Gretel.“

Nach so vielen Gruseleien hielten sich die kleineren Kinder noch fester an den Händen oder versteckten sich hinter den Erwachsenen.

Plötzlich drehte sich die alte Frau zu ihren Gästen um, nahm einen Stift und ein großes Blatt Papier. Sie schrieb nur wenige Zeilen:

 

Liebe Dorfbewohner,

danke, dass Sie mit Ihren Kindern heute beim Adventsfenster meine Gäste sind. Leider sehe ich Sie sonst nur von weitem bei Ihren Spaziergängen. Da ich gehörlos bin, konnte ich Ihnen nie richtig „Guten Tag“ sagen und das hole ich heute nach.

Ich wünsche allen einen fröhlichen Abend. Lassen Sie sich den Hagebutten-Tee und meine Weihnachtskekse gut schmecken.

Ihre Lotti Holthausen

 

So war das also. Viele Besucher blickten beschämt beiseite. Einige nahmen ihr Taschentuch und schnieften leise hinein. Sie hatten der alten Frau lange Zeit Unrecht getan, weil sie die freundlichen Gesten nicht verstanden und ihre Gebärdensprache als Hexenlatein abgetan hatten. Zum Ende des geselligen Adventsfensters drückten ihr Groß und Klein zum Dank die Hand und schenkten ihr ein freundliches Lächeln.

Seit dem Adventsfenster gab es mehr Spaziergänger, die ihren Weg vorbei am Hexenhaus wählten. Und die alte Frau konnte den nun langsamer ausgesprochenen Gruß von ihren Lippen ablesen. Viele Kinder dagegen probierten mit großem Spaß etwas Neues aus: Sie redeten mit der alten Frau in der neu erlernten Gebärdensprache.


Nymphensittich

Der Weihnachtsschlüssel

Das Jahr war wieder einmal an unserer kleinen Familie vorbeigezogen, und ehe wir uns versahen, war es Heiligabend. Unsere beiden Mädchen, Kim und Joana, 7 und 9 Jahre alt, konnten es nicht erwarten, bis endlich das Christkind zu uns kam.

Ein Blick ins Wohnzimmer war ihnen bereits seit dem Vorabend nicht mehr möglich. Die Glasscheibe der Wohnzimmertür wurde traditionell mit einer Decke zugehängt. Auch das Blinzeln durchs Schlüsselloch war hoffnungslos. Eine weitere kleine Tradition – das wussten unsere beiden Mädchen – bestand darin, die Wohnzimmertür abzuschließen, den Schlüssel abzuziehen und das Schlüsselloch mit Engelhaar zu verstopfen.

Richtig spannend wurde bei uns am frühen Nachmittag des Heiligen Abends. Die Weihnachtsschlüssel-Suche – nach dem versteckten Wohnzimmerschlüssel – konnte beginnen. Eine List der Erwachsenen, um die beiden kleinen Ungestüme zu beschäftigen und nach dem Kindergottesdienst noch etwas Zeit für die Vorbereitung des Festessens zu gewinnen. Zum Versteck gehörte neben Küche und Korridor auch das Arbeitszimmer. Hier hatte auch unserer Papagei Jakob in den Vorjahren Kim und Joana laut krächzend bei der Weihnachtsschlüssel-Suche unterstützt.

Kim kroch unter den Küchentisch, während Joana den Schuhschrank und die Kommode im Korridor genauer inspizierte. Dort hatte sie im vorletzten Jahr den Weihnachtsschlüssel in ihren Winterstiefeln gefunden. Ein weiterer Tipp kam von Kim: Der Schlüssel könne im Gefrierfach des Kühlschranks liegen und inzwischen zu Eis erstarrt sein. – Fehlversuch!

Beide suchten inzwischen gemeinsam im Arbeitszimmer. Jakob krächzte immer lauter, desto intensiver die beiden Mädchen suchten. Ab zu und plapperte er etwas daher, aber beide achteten nicht auf ihn.

„Was machen wir bloß, wenn wir den Schlüssel heute nicht mehr finden?“ Kim war besorgt, dass der Heilige Abend für beide ausfallen könnte. Joana tröstete ihre kleine Schwester: „Bestimmt nicht, wir haben ihn bislang stets rechtzeitig gefunden. Komm‘, wir suchen noch mal hinter der Gardine und auf Papas Schreibtisch!“

Inzwischen wurden wir, die Erwachsenen, ebenfalls etwas unruhig. Eigentlich hätten unsere beiden Mädchen den Weihnachtsschlüssel längst neben ihrem Foto auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer finden müssen.

Mein Mann und ich unterstützten nun die beiden bei der Suche mit den kleinen Wörtchen „heiß“ und „kalt“, um sie auf die richtige Weihnachtsfährte zu bringen. Wir tauschten einen fragenden Blick aus – der Weihnachtsschlüssel lag nicht mehr neben dem Foto unserer Töchter, und auf den Fußboden war er ebenfalls nicht. Nun konnte nur noch unsere Haushälterin weiterhelfen, die uns am Vorabend bei den Weihnachtsvorbereitungen ausgeholfen hatte. Während mein Mann zum Telefonhörer griff, suchten Joana, Kim und ich zu dritt nach dem Weihnachtsschlüssel.

Jakob krächzte immer lauter, lief aufgeregt auf seinem Ast zwischen Käfig und Wand hin und her und plapperte kaum verständlich: „Weih, Weih, Schlü, Schlü!“

„Mama, hör mal, Jakob sagt irgendetwas, aber ich kann’s nicht verstehen“, Kim hatte inzwischen schon rote Wangen von der anstrengenden Suche.

„Ja, stimmt, ich weiß auch nicht, was er heute hat, so aufgeregt war er noch nie. Bestimmt merkt er, dass etwas bei uns nicht stimmt.“

Mein Mann legte den Hörer auf: „Fehlanzeige, Frau Martin hat den Schlüssel gestern nicht weggelegt. Sie konnte sich jedoch daran erinnern, dass er noch neben dem Foto der Kinder lag, als sie das Arbeitszimmer verließ.“

Ratlos und nachdenklich standen wir da. Jakob flatterte aufgeregt mit den Flügeln und landete auf Kims Schulter. Etwas glitzerte zwischen seinen starken Krallen.

„Mama, Papa, schaut mal, Jakob hat den Weihnachtsschlüssel gefunden!“ Joana war glücklich. „Jetzt weiß ich auch, was er zu uns gesagt hat, nämlich: ‚Weihnachtsschlüssel‘!“

„Nun ja – zukünftig werden wir wohl bei der Weihnachtsschlüssel-Suche alle besser auf Jakob aufpassen müssen, wenn das Christkind am Heiligen Abend rechtzeitig zu uns kommen soll“, schmunzelte mein Mann.

Puppe

Manchmal gehen Wünsche in Erfüllung

Rudolf wurde schon ungeduldig und blickte sich nach dem Nikolaus um. Der kam gerade mit einem bunten Päckchen zum Rentierschlitten.

„So, das war das letzte Geschenk, das noch auf den Schlitten muss. Jetzt liegt es an euch, mich geschwind vom Nordpol zu den Kindern zu bringen.“

Ein fünfjähriges Mädchen wartete ebenso ungeduldig wie das Rentier auf den Nikolaus. Vielleicht würde der größte Wunsch in Erfüllung gehen und Maike bekäme die teure Puppe, die wie ein echtes Baby aussah. Sie hatte schon einen Plan geschmiedet, um den Nikolaus zu verwöhnen und die Rentiere anzulocken.

Heimlich hatte Maike am Nachmittag etwas frisches Heu für die Rentiere aus dem Kaninchenstall mitgenommen und es anschließend in ihrem Fensterrahmen eingeklemmt. Für den Nikolaus legte sie Zimtkekse in eine Weihnachtsdose und stellte sie ebenfalls auf die Fensterbank. Der Duft von Keksen und Heu würde in den Himmel aufsteigen, das weihnachtliche Gespann anlocken.

Auch den Klapperstorch hatte sie in diesem Jahr so angelockt. Im vergangenen Frühling wünschte sie sich so sehr ein Geschwisterchen von ihren Eltern. Damals kam von ihrer Mutter der Tipp, sie solle für den Klapperstorch Zuckerwürfel auf die Fensterbank legen. Warum sollte diese Idee nicht auch bei Rentieren funktionieren? Die Babypuppe war fast genauso groß und schwer wie Tim, ihr kleiner Bruder, der vor wenigen Wochen zur Welt gekommen war.

Maike zog ihren Weihnachtswichtel-Vorhang zu, um den Nikolaus und die Rentiere nicht bei der Arbeit zu stören. Als sie draußen ein Geräusch hörte, konnte sie es vor Aufregung nicht mehr aushalten – vielleicht waren sie schon da? Sie zog den Vorhang vorsichtig beiseite: Schade –  Zimtkekse und Heu lagen noch auf der Fensterbank, und bis zum Nikolausabend war nicht mehr viel Zeit, hatte ihre Oma gesagt. Maike zog enttäuscht den Vorhang wieder zu. „Sicher ist sicher!“, dachte sie.

„Maike, komm schnell ins Wohnzimmer“, rief ihr Vater, „der Nikolaus war da!“ Sie war im Nu dort und sah einige bunte Päckchen. Ob in dem dicksten, mit Rentier-Geschenkpapier verpackten wohl die Babypuppe sein konnte? Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. Ein kleiner Weihnachtsanhänger, auf dessen Vorderseite der Nikolaus mit Rentierschlitten abgebildet war, hing an dem Päckchen.

„Omi, lies mir bitte mal vor, was da steht!“ – Maike konnte es vor Spannung kaum aushalten.

„Liebe Maike, viel Freude mit deinem Nikolausgeschenk. Danke auch für die kleine Stärkung auf der Fensterbank.“ Die Großmutter gab Maike das Geschenk wieder zurück.

Als die Kleine das Päckchen in den Händen hielt, fiel ein bisschen Heu auf den Teppich. Jetzt wusste Maike ganz genau, dass sie gleich als Belohnung die Babypuppe bekommen würde.




Weihnachtsglöckchen rot

Wenn ein Weihnachtsglöckchen klingelt

Kaum hatten sich ihre Eltern kurz mit dem Verkäufer über die Vorteile eines neuen Kaffee­vollautomaten unterhalten, lief die fünfjährige Lisa schon durch die Weihnachtsausstellung des Kaufhauses. Sie ging um die Regale herum und warf einen raschen Blick in alle Weiden­körbe, die übervoll mit bunten Weihnachtskugeln waren. Nichts! – Lisa war enttäuscht! Aber die Eltern hatten ihr versprochen, gleich noch über den Weihnachtsmarkt zu gehen.

„Nun wartet doch auf mich!“, Lisa konnte ihnen nicht schnell genug durch die engen Gänge des Weihnachtsmarktes folgen. „Ich habe noch nicht alles an diesem Stand gesehen.“

Beide wunderten sich – warum interessierte sich Lisa heute für Glasartikel, wo sie sonst doch meinte, Deko in der Wohnung sei blöd und störe nur beim Toben. Na ja, vielleicht begeisterte ja der goldfarbene Schimmer auf den Glaskugeln ihre kleine Tochter.

„Endlich!“ – Lisa war überglücklich. Schnell griff sie in das kleine Körbchen hinein und klingelte so laut sie nur konnte mit dem Weihnachtsglöckchen. Alle drehten sich schon nach ihr um, und ihre Eltern ermahnten sie dazu, das Glöckchen wieder zurückzulegen.

Lisa zog einen Schmollmund. „Die Erwach­senen verstehen auch gar nichts!“, dachte sie.

„Lisa, wir möchten noch eine Kleinigkeit essen, magst du auch etwas?“

„Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Darf ich mir noch einige Weihnachtsstände an­schauen?“

„Na gut, aber gehe nicht zu weit von uns weg.“

Lisa strahlte, denn sie hatte wieder Glöckchen erspäht. Das durfte sie natürlich den Eltern nicht sagen. Mit ihren kleinen Händen griff sie flink in die Schachtel hinein und schüttelte die bunten Weihnachtsglöckchen mal mit der rechten und mal mit der linken Hand kräftig hin und her.

 

Weihnachtsglöckchen rosa

„Wenn dir eines davon gefällt, kannst du es dir kaufen. Frage doch mal deine Eltern. Aber nur damit klingeln, ist nicht in Ordnung“, sagte der Verkäufer zu Lisa.

Sie schüttelte traurig den Kopf. „Nein, wir haben vorhin schon unser ganzes Geld im Kaufhaus aus­ge­geben.“

Die Kleine ging wieder zu ihren Eltern zurück. Keiner der Erwachsenen schien zu wissen, wie wichtig es war, mit einem Weihnachtsglöckchen zu klingeln.

Lisa beschloss, später viele Glöckchen auf ihren Wunschzettel aufzumalen. Am Abend klebte sie ihn an die Fensterscheibe ihres Kinderzimmers, denn das Christkind hatte ihn im letzten Jahr dort abgeholt – und ihr sogar alle Wünsche erfüllt.

„Nanu?“, Lisas Mutter war überrascht, „nur Glöckchen auf deinem Wunschzettel? Haben sie dir heute auf dem Weihnachtsmarkt so gut gefallen?“

Lisa schüttelte energisch ihren blonden Lockenkopf. „Nein, ich möchte mit ganz vielen Weihnachtsglöckchen klingeln, und ihr solltet das auch tun.“

„Das verstehe ich nicht!“ – Lisas Mutter war ratlos.

„Immer, wenn ein Weihnachtsglöckchen klingelt, wachsen einem Engelchen Flügel. Und wenn ich ganz oft klingele, gibt es überall auf der Welt superviele davon. Die beschützen uns dann, wenn wir traurig, krank oder allein sind. Und das ist doch gut – oder?“

Lisas Mutter musste schlucken – dann drückte sie ihre Tochter fest an sich.

Engel mit Herz

Kuh

Alles ist möglich

Agnesia tollte ausgelassen über die verschneite Weide. Die Bäuerin hatte alle Kühe am späten Vormittag dieses sonnigen Novembertages nach draußen gelassen. Sie meinte, sie sollten noch etwas frische Luft bekommen, bevor es in den nächsten Wochen mehr Schnee geben würde und der Weg zur Weide nicht mehr möglich sei.

Während sich alle anderen Kühe nur vorsichtig und langsam bewegten und einige Grashalme fraßen, die noch aus dem Schnee herausragten, rannte Agnesia pausenlos hin und her. Ab und zu setze sie zu kleineren Sprüngen an, als ob sie an einem Rodeo teilnehmen würde. Manchmal landete sie, statt auf ihren vier Hufen, mit dem Hinterteil oder mit den Hörnern im Schneematsch. Ihr sonst sauberes hellbraun glänzendes Fell war inzwischen gescheckt – eine klebrige Masse aus Schnee und Erdklumpen klebte daran fest und ihr Schwanz war triefnass.

Dorfbewohner, die das Schauspiel auf ihrem Spaziergang beobachteten, lachten lauthals über die Bocksprünge und Sprints dieser „dummen“ Kuh.

Selbst Agnesias Stallgenossen schüttelten ihre Köpfe verständnislos hin und her - dabei klingelten ihre Kuhglocken so laut, dass die Mittagsruhe im Dorf dahin war.

Agnesia rannte immer wieder von einem Ende der Weide zum anderen. Ihre Nasenlöcher waren weit geöffnet, und ihr Atem dampfte in der kalten Winterluft. „Sollten alle ruhig über sie lachen, das war ihr egal. Denn sie wusste ja genau, warum sie trainierte“, dachte Agnesia trotzig. Kürzlich hatte sie ihre Bäuerin mit einer besonders schönen Einkaufstüte gesehen. Umrahmt von einer Tannengirlande mit roten und goldenen Kugeln war in der Mitte der Tüte der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren vor einem verschneiten Tannenwald abgebildet.

Das weihnachtliche Gespann hatte offensichtlich eine Rast eingelegt. Die sechs Rentiere kauten frisches Heu, und der Weihnachtsmann saß in seinem Schlitten, wärmte sich mit einer flauschigen Wolldecke und trank ein Glas heiße Milch. Auf seinem Schoß lagen mit Zuckerperlen und Schokolade überzogene Weihnachtskekse.

„Alle sahen so glücklich und zufrieden aus“, fand Agnesia. Und das trotz der Weihnachtshektik, über die alle Menschen inzwischen stöhnten. Das wusste die Kuh von ihrer Bäuerin. Sie hatte ihrem Mann kürzlich beim Melken erzählt, was sie alles noch bis Weihnachten zu tun hätte: erst Hausputz machen, dann alles dekorieren, dann Weihnachtskekse backen, dann einkaufen, und, und, und...

Arbeit und Hektik schienen dem Weihnachtsmann und seinen Rentieren nichts auszumachen. Unter seinem weißen Bart konnte Agnesia ein zufriedenes Lächeln erkennen. Und das trotz der vielen bunten Päckchen und Jutesäckchen, die sich vor und hinter ihm auf dem grünen Holzschlitten auftürmten und ihm kaum Platz zum Atmen ließen. Sicherlich musste er zusammen mit seinen Rentieren noch alles bis zum Weihnachtsabend verteilen.

Agnesia beneidete die sechs Rentiere um die große Ehre, ihn auf seiner weiten Reise zu begleiten. Sie wünschte nichts sehnlicher als mit ihnen zusammen diesen Schlitten zu ziehen. Stark genug war sie schon, nach dem vielen Kraftfutter, das sie gefressen hatte. Allerdings wollte es mit dem Fliegen immer noch nicht klappen. Jeder Versuch, auch mit größtem Anlauf, war bislang gescheitert. Aufgeben wollte sie jedoch keineswegs.

Kuh Agnesia

Was Agnesia nicht wusste war, dass die Weihnachtswichtel sie seit längerem heimlich beim Training beobachtet und dem Weihnachtsmann von ihrem geheimsten Wunsch, den Schlitten zu ziehen, erzählt hatten.

„So viel Mühe muss doch belohnt werden, findet ihr nicht auch?“, fragte der Weihnachtsmann in die Runde. Alle nickten zustimmend.

Und so kam es, dass der Schlitten des Weihnachtsmanns erstmals von sechs Rentieren und Agnesia gezogen wurde.


Glühwein in Hand

Ein Gläschen Glühwein zu viel

"Komisch, ich bin sicher, ich hatte sieben Säckchen mit goldenem Milchstraßenstaub für euch Rentiere mitgenommen. Jeweils eines davon habe ich euch wie in jedem Jahr um den Hals gebunden, damit ihr fliegen könnt - macht sechs. Und eines liegt als Reserve in meinem Schlitten, falls einer von euch sein Säckchen verlieren sollte. Aber jetzt kann ich das siebte Säckchen mit Milchstraßenstaub nicht finden, obwohl wir es nicht gebraucht haben."

Der Nikolaus suchte erneut: im Schlitten, in seinen Manteltaschen, im Geschenke-Sack, der - und wie sollte es zum Ende des Nikolausabends richtigerweise sein - ebenfalls leer war.

"Vielleicht hat einer der Wichtel das Säckchen in die Weihnachtswerkstatt gebracht, um es für das kommende Jahr sicher aufzubewahren. Oder einer von ihnen hat mir einen Streich gespielt, um mich ein wenig zu necken. Schlimmstenfalls ist es mir aus dem Schlitten gefallen und liegt vielleicht irgendwo auf der Straße.

Dann sammeln wir eben für das nächste Jahr wieder neuen Milchstraßenstaub. Jedenfalls suche ich heute nicht mehr danach. Lieber füttere ich euch jetzt nach dieser langen Nacht mit frischem Heu und kühlem Gletscherwasser, damit ihr satt seid und euch endlich im Stall ausruhen könnt. Und ich freue mich schon auf einen heißen Kakao und auf leckere Plätzchen, die ich gleich auf meinem Sofa genießen werde."

Nur einen Tag später entdeckten ein paar Kinder, die bei Einbruch der Dämmerung nach Hause gehen mussten, auf dem Bürgersteig ein kleines Säckchen.

"Schaut 'mal, das Säckchen muss jemand verloren haben." Die sechsjährige Hannah knotete die goldene Kordel auf und sah winzige kleine Körnchen, die trotz der hereinbrechenden Dunkelheit hell funkelten.

"Oh, wie schön - die sind toll! Wir streuen sie auf unseren Bürgersteig. Wenn die Körner darauf so glitzern, dürfen wir bestimmt noch etwas länger draußen spielen. Sobald die Laternen an sind, muss ich rein, sagen meine Eltern, und das ist immer so früh im Winter. Außerdem hat es das Christkind am Heiligen Abend viel leichter, wenn es uns im Dunkeln nicht suchen muss, weil alles um uns herum so schön glitzert."

Die Kinder verteilten die goldenen Körnchen bis auf den letzten Krümel auf dem Bürgersteig. Der Älteste, der siebenjährige Ben, steckte das leere Säckchen in seine Hosentasche, um es für den nächsten Abend wieder mit Glitzerstraub zu füllen. Er meinte, seine Mutter würde nicht merken, wenn von ihren goldenen Körnchen, mit denen sie die Fensterbank im Wohnzimmer dekoriert hatte, einige fehlten.

"Hallo Papa, gehst du jetzt erst mit Bella deine Runde?" Ben kam gerade zur Haustür herein, als sein Vater die Hundeleine holte.

"Ja, ich bin heute spät dran, weil ich mich mit meinen Arbeitskollegen, bevor alle in den Urlaub gehen, auf ein Glas Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt verabredet hatte. Ich geh' nur kurz um den Block und bin schnell wieder da. Mama ist in der Küche und backt Weihnachtsplätzchen. Du kannst ihr helfen, wenn du möchtest. Dann ist sie schneller fertig, und sie lässt uns vielleicht zum Abendbrot ein paar davon naschen."

"Ja, gute Idee, ich habe schon einen Riesenhunger! Bis gleich."

Hund

Nach kurzer Zeit war Bens Vater mit Bella, der 6jährigen Mischlingshündin, von seiner Gassi-Runde wieder zurück. Seiner Frau und seinem Sohn schien es, als sei er etwas durchein­ander. Sie schmunzelten: "Ja, ja, was nur ein Gläschen Glühwein so alles bewirken kann!"

Er blieb dabei: "Es war nur ein einziges Glas. Ansonsten habe ich noch zwei Kinderpunsch getrunken. Dies ist mir vor vielen Jahren nur einmal passiert, dass ich zusammen mit meinen Kollegen zu viele Gläschen Glühwein genossen habe und anschließend den Weihnachtsbaum nicht mehr schmücken konnte."

Trotzdem - er verhielt sich weiterhin merkwürdig - da waren sich Mutter und Sohn einig. Er suchte überall nach der Fernbedienung, die wie gewöhnlich in der Schublade des Couchtisches lag. Er verfolgte unkonzentriert das Fernsehprogramm und blickte ab und zu gedankenverloren aus dem Wohnzimmerfenster.

"Komm' schon, heraus mit der Sprache! Ist dir vom Glühwein und von der Bratwurst doch unwohl? Du verhältst dich so merkwürdig, seitdem du mit Bella von deiner Runde nach Hause gekommen bist." Seine Frau ließ nicht locker.

"Nein, das ist es nicht. Aber trotzdem ist mir flau im Magen."

"Das verstehe ich nicht."

"Ja, ich eigentlich auch nicht. Also, als ich vorhin mit Bella in den Feldern war, hatte ich das Gefühl, als seien wir beide von der Erde abgehoben und einige Meter durch die Luft geschwebt. Wie der Nikolaus, der seine Rentiere an der Leine hält und mit seinem Schlitten durch den Himmel fliegt. Das kann natürlich nicht sein, aber es war alles so real für mich. Leider hat uns niemand gesehen, der das bestätigen könnte. Ich glaube allmählich, ich sollte überhaupt keinen Glühwein mehr trinken. Wenn mich schon ein Gläschen dazu bringt zu glauben, dass Bella und ich fliegen."

"O.k. Du hast jetzt fast ein Jahr Zeit, dir zu überlegen, ob du bei der nächsten Weihnachtsfeier wieder einen Glühwein trinkst. Vielleicht solltest du besser darauf verzichten, wenn der dich so aus der Bahn wirft! Jetzt lass' uns zu Abendbrot essen! Nach ein paar Weihnachtsplätzchen geht es dir sicher wieder besser."

Geschenkpapier

Jedes Ende ist ein Anfang

Das Elchkind Esra diskutierte heftig mit seinen Freunden. Alle waren zusammen auf einer Rolle Weihnachtsgeschenkpapier abgebildet und sollten in wenigen Tagen die Geschenke unter den Weihnachtsbäumen lustig bunt aussehen lassen.

„Was soll’s, mich interessiert es nicht, wenn ich nur ein kurzes Leben habe, Hauptsache ich liege überhaupt unter einem Weihnachtsbaum“, entgegnete Kalle.

„Auf der Rolle sieht uns sowieso keiner. Wenn wir aber um einen großen Karton gewickelt werden, können uns alle bestaunen“, Giovanni legte immer viel Wert auf sein Aussehen.

„Ja, schon“, gab Esra zu, „aber wenn das Geschenk ausgepackt wird, werden wir entweder zerrissen oder zur Kugel zusammengeknüllt. Keiner von den Beschenkten kommt auf die Idee, uns genauer anzusehen und weiterhin zu gebrauchen.“

„Wie soll das gehen? Es gibt klebrige Stellen vom Tesafilm oder Knicke von den Kordeln auf uns. Wir sind nun mal nur für den Heiligen Abend bestimmt. Ich finde das nicht weiter schlimm.“ Haiko war mit seinen Freunden einer Meinung.

„Ist es doch“, ereiferte sich Esra. „Habt ihr mal an die Berge von Geschenkpapier gedacht, die nach Weihnachten im Müll landen?“

„Bleib cool! Meistens kommen wir in Papiercontainer und werden recycelt. Ist doch egal, dann sind wir eben Altpapier-Elche. Außerdem – hast du eine Idee wie du es anstellen willst, länger zu leben?“

„Nein, noch nicht“, gab Esra kleinlaut zurück. „Aber vielleicht fällt mir noch etwas ein.“ – So schnell wollte das kleine Elchkind nicht aufgeben.

Kurze Zeit später kaufte sich Tobys Oma das Elchpapier, um das neue Laminiergerät für ihren Enkel damit zu verpacken. Sie schnitt ein Riesenstück von der Geschenkpapierrolle ab und lächelte. Es sah so lustig aus, wie die Elchkinder im Schnee spielten, in kleinen Gruppen zusammenstanden oder genüsslich an einer Zuckerstange kauten. So ein schönes Geschenkpapier – viel zu schade, um es nach den Feiertagen achtlos wegzuwerfen!

Nun ein Elchkind sah eher traurig aus. Vielleicht lag es nur an den großen melancholischen Augen und den hängenden Ohren? – Wahrscheinlich bildete sie sich das alles nur ein. Wer würde schon Weihnachtspapier mit einem traurigen Elchkind herstellen?!

Esra grübelte stundenlang darüber nach, wie er es anstellen sollte, als Papierelch länger gebraucht zu werden und schlief kaum noch bis zum Heiligen Abend. Nun lag er seufzend unter dem Weihnachts­baum und hatte sich mit seinem kurzen Leben bis kurz nach der Bescherung endgültig abgefunden.

„Omi, das ist ein tolles Papier, ich werde das Geschenk vorsichtig aufmachen! Und den Elch“, Toby tippte auf Esra, „schneide ich aus und behalte ihn. Der sieht so traurig aus, Omi, guck mal.“

„Komisch, das habe ich auch gedacht“, antwortete sie ihm.

Toby entfernte vorsichtig die Tesafilmstreifen vom Papier und hielt ein Laminiergerät samt Laminierfolien in den Händen.

„Super, das kann ich gut gebrauchen, vielen Dank, Omi! Weiß du was, nach dem Abendessen probiere ich das Gerät aus. Ich lege das ausgeschnittene Elchkind in die Folie und mache mir ein neues Lesezeichen.“

Und am späten Heiligen Abend funkelten in Esras Augen kleine Sterne vor Freude, weil er nun doch nicht im Papiermüll gelandet war.




Strohsterne am Weihnachtsbaum

Vorsicht - Heiliger Abend!

Heute, am Heiligen Abend, wollte es sich Raphael, der freundliche Schutzengel, im Wohnzimmer von Leonores Eltern gemütlich machen und die Kleine beim Auspacken der Weihnachtsgeschenke beobachten. Das ganze Jahr über stand er ihr zur Seite. Und das war auch gut so!

Raphael saß auf dem Weihnachtsbaum – zwischen Strohsternen, silbernen Kugeln, Glöckchen und Lichtern – und streckte sich. Sein Rücken schmerzte seit seinem letzten Sturzflug immer noch. Vor einigen Tagen hatte Leonore ihre neuen Schlittschuhe auf dem zu dünnen Eis des nahe gelegenen Teiches ausprobiert. Selbstverständlich war Raphael rechtzeitig zur Stelle, um sie aus dem Wasser zu fischen.

Kind rodelt

Während es draußen dämmerte, dachte er über Leonores kleine Abenteuer nach. Beim Rodeln im vergangenen Winter verfehlte sein kleiner Schützling das Ziel und musste aus einer dicken Schneewehe ausgegraben werden. Im Frühjahr hatte sie aus Versehen das Osterfeuer, den Zaun und die Gartenlaube ihrer Nachbarn in Brand gesteckt.

Auch im Sommer wurde Raphael herausgefordert. Leonore beschloss an ihrem ersten Urlaubstag, sofort im Meer zu baden, obwohl absolutes Badeverbot bestand. „Fahnen kenne ich schon“, erklärte sie ihrem 5-jährigen Freund, „von der WM, da hatte Papa so eine am Gartenteich und am Auto.“

Wenn ihre Eltern nach den „kleinen Katastrophen“ abends an ihrem Bett saßen, tröstete sie die 6-Jährige: „Ihr müsst keine Angst haben, mein Schutzengel passt auf mich auf!“ Und sie betete: „Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein. Behüte mich bei Tag und Nacht, dass mir kein Leid geschehen mag.“

Raphael spreizte seine Flügel, um es sich auf dem Ast des Weihnachtsbaumes noch etwas bequemer zu machen. Dabei stieß er aus Versehen an ein Glöckchen: „Kling, kling, kling.“

Sofort flog die Wohnzimmertür auf, Leonore stützte herein und stolperte im Halbdunkel dabei über die große Blumenvase mit den Adventszweigen. Kind und Vase landeten dank Raphaels Hilfe unversehrt unter dem Wohnzimmertisch.

Der Schutzengel merkte erst eine Schrecksekunde später, dass er dieses Mal für das kleine Chaos verantwortlich war. Er hatte aus Versehen das Weihnachtsglöckchen geläutet. Leonore nannte sie so, weil sie immer erst ins Wohnzimmer gehen durfte, wenn das Christkind dort fertig war und sie das Weihnachtsglöckchen hörte. Denn sonst, das hatte sie sich gemerkt, würde das Christkind zu früh entdeckt und sofort wieder wegfliegen – natürlich ohne die Geschenke unter den Baum gelegt zu haben.

Der Heilige Abend war folglich der einzige Tag im Jahr, an dem sich Leonore besondere Mühe gab, brav zu sein – abgesehen vom letzten Heiligen Abend, als sie die Wachskerzen am Weihnachtsbaum anzünden wollte und samt Baum auf das Sofa gestürzt war – und abgesehen vom vorletzten, als sie die dicke Weihnachtskugel zerschlagen hatte, weil sie darin ihre neue Haarspange ansehen wollte ... Und an mehr Heilige Abende könne sie sich wirklich nicht erinnern!


Zahnschmerzen

Christkind in Not

Das Christkind stöhnte leise und die sonst rosigen Wangen waren stark gerötet und geschwollen. Schon seit Wochen hatte es Zahnschmerzen und auch die gut gemeinten Ratschläge von den Elfen hatten bislang keinen nennenswerten Erfolg gezeigt. Selbst das Eis vom Nordpol, das der Nikolaus mit seinem Rentierschlitten zum Kühlen der Wangen mitgebracht hatte, war inzwischen geschmolzen.

„Wie soll ich mit diesen Zahnschmerzen alle Kinder auf der Welt beschenken, wenn ich mich gar nicht darauf konzentrieren kann, wohin ich am Heiligen Abend fliegen muss. Und mir bleibt nur noch so wenig Zeit, wieder gesund zu werden.“ Das Christkind war ratlos. „Hat ihr keinen weiteren Tipp für mich?“

„Vielleicht hätte ich eine Idee“, der kleine Wichtel kam gerade aus der Weihnachtswerkstatt und wollte eine kurze Pause machen. „Wie wäre es, wenn du, auch wenn du das Christkind bist und sonst alle Wunschzettel beantwortest, ausnahmsweise einmal selbst einen schreiben würdest. Du könntest ihn an die Zahnfee abschicken und darin, statt um ein kleines Geschenk unter deinem Kopfkissen, um Hilfe gegen deine Zahnschmerzen bitten. Einen Versuch ist es doch wert oder etwa nicht?“

Nach einigem Hin und Her überzeugten auch die Elfen das Christkind davon. Die jüngste Elfe lief gleich los und holte besonders schönes cremefarbenes Briefpapier mit goldenen Sternchen vom Weihnachtspostamt Himmelskirchen. Eine andere Elfe eilte in die Weihnachtswerkstatt und brachte dem Christkind einen Füllfederhalter und leuchtend blaue Tinte.

Wunschzettel

Der Weihnachtswichtel schrieb inzwischen die Adresse der Zahnfee auf den Briefumschlag.

Nun grübelten alle gemeinsam darüber nach, was das Christkind an die Zahnfee schreiben sollte. Sie entschieden sich für ein kurzes Gedicht:

 

Mein Wunschzettel!

Liebe Zahnfee komm‘ in meinen Raum

und heile meinen Schmerz im Traum.

Mache einen guten Plan

für meinen kranken Backenzahn.

Als Belohnung schenk‘ ich dir

ein schönes Weihnachtsfest bei mir!

Dein Christkind

 

Der Weihnachtswichtel brachte den Brief schnell zum Postamt, bevor es sich das Christkind wieder anders überlegen konnte.

Das Christkind schlief in dieser Nacht nicht besonders gut – nicht nur wegen der Zahnschmerzen, sondern auch aus Angst davor, die Zahnfee zu erschrecken. Als es am Morgen aufwachte, saßen die Elfen und einige der Weihnachtswichtel schon an seinem Bett.

„War die Zahnfee heute Nacht bei dir?“, fragte der jüngste Wichtel das Christkind.

„Ich glaube ja, denn ich habe nicht mehr so starke Zahnschmerzen und meine Wange sieht schon wieder rosig aus“, das Christkind strahlte wieder. „Jetzt werde ich doch noch alle Geschenke rechtzeitig verteilen können, und ich bin wunschlos glücklich.“

Weihnachtsgeschenke

Weihnachtselefant

Sang Raja - der Weihnachtselefant

Sang Raja war enttäuscht. Er stand seit drei Wochen am gleichen Platz im Regal des Weihnachtsmarktstandes. Ab und zu wurde der Weihnachtselefant von erwachsenen Besuchern hoch gehoben, von vorne und von der Seite aus betrachtet, dann wieder ins Regal gestellt. Keiner hatte wirkliches Interesse an ihm. Und das, obwohl er aus edlem Metall gefertigt und auf seinem Rücken ein grünes mit goldener Farbe umrandetes Sternornament ausgestanzt war. Dezente Farben und weitere kleine Ornamente zierten seinen Körper. Seine goldenen Stoßzähne glänzten abends im Kerzenlicht und ließen ihn leider noch gewaltiger erscheinen. Seine Größe, so vermutete der Weihnachtselefant, schreckte jeden Besucher vom Kauf ab.

Ab und zu bat ein Kind seine Eltern, sie sollten den niedlichen Weihnachtselefanten kaufen. Ihre Antworten waren ein deutliches 'Nein' und lauteten in etwa so: 

  • Dieser Weihnachtselefant ist zu groß.

  • Der Elefant ist zu teuer.

  • Seine Verzierung ist zwar wunderschön, passt aber nicht zu unserer modernen Krippe.

  • Ein Weihnachtselefant gehört nicht in eine Krippe, sondern nur ein Esel, ein Ochse und Schafe.

Sang Raja stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ seine Ohren hängen. Er hatte sich so sehr auf ein neues Zuhause neben dem Jesuskind gefreut. Mit seinem Rüssel könnte er kräftig zupacken, wenn Ochse, Esel oder die Schafe der Hirten frisches Heu brauchten. Und das Jesuskind wollte er mit der Rüsselspitze vorsichtig in den Schlaf wiegen oder trösten, wenn es nachts von schlechten Träumen wach werden würde.

Weihnachtselefant mit Tannengrün

Die Tage vergingen, und die letzte Woche vor dem Weihnachtsfest war fast vorbei. Sang Raja hatte die Hoffnung aufgegeben, in irgendeiner Krippe zu stehen.

"Omi, schau', ein Weihnachtselefant! Ich mag Elefanten. Die sind groß, stark, können viel tragen und haben ein supergutes Gedächtnis. In Indien sind sie sogar heilig. Das habe ich im Zoo gehört und im Fernsehen gesehen. Zum Elefantenfest werden sie wunderschön geschmückt wie dieser hier."

Sang Raja richtete seine Ohren auf. Sollte doch für ihn ein Weihnachtswunder geschehen?

"Ich muss zugeben, er ist hübsch, aber zu groß für eure Krippe."

Amely dachte angestrengt nach. "Omi, ich hab's! Auf eurem Dachboden steht eine ganz alte, von Uropa vor vielen Jahren selbst gebastelte große Krippe. Wir beide haben sie vor längerer Zeit beim Aufräumen gesehen. Du hast mir damals gesagt, es sei für euch inzwischen zu schwer, alles zu Weihnachten ins Wohnzimmer zu tragen. Außerdem sei das Krippenhaus nicht mehr heil. Deshalb habt ihr sie nicht mehr aufgebaut. Aber ihr wolltet sie für mich aufheben, damit ich sie, sobald ich erwachsen bin, repariere und in meiner Wohnung aufstelle. Leider dauert das noch ein paar Jahre. Aber Opi könnte das kaputte Krippenhaus bis Weihnachten durch ein neues ersetzen, Papa beim Tragen und ich beim Aufbauen helfen. Der Weihnachtselefant hätte in eurer Krippe bestimmt genug Platz neben dem Jesuskind. Und ich würde mich später jedes Weihnachten daran erinnern, dass du ihn mir heute geschenkt hast."

"Na ja! Mit ein wenig Unterstützung von Opi und Papa könnten wir es hinbekommen."

"Das wäre super, Omi! Kaufen wir den Weihnachtselefanten?"

Sang Rajas Augen strahlten inzwischen so hell wie der goldene Stern auf seinem Elefantenrücken.

Amelys Großmutter nahm ihn vorsichtig aus dem Regal. "O. k., wir nehmen ihn mit. Er bekommt einen Ehrenplatz in unserer Krippe."

Als der Weihnachtsmarkthändler Sang Raja sorgfältig in einen hübschen Karton legte, wurde es dunkel für den Weihnachtselefanten. Aber er wusste, das sein Traum, Weihnachten neben dem Jesuskind in der Krippe zu stehen, in wenigen Tagen wahr werden würde.

Krippe mit Weihnachtselefant
Wolke

Himmlische Saiten

Nanael saß gelangweilt auf einer Wolke und wartete darauf, dass seine Freunde, die anderen Schutzengel, wieder zu ihm zurückkehrten. Gerade in der Vorweihnachtszeit hatten sie jede Menge zu tun. Stress und Hektik ließen die gereizten Menschen unachtsam werden. Autounfälle, Stürze auf der Straße oder im Haushalt gab es täglich dutzendweise. Glücklicherweise verhinderten die Schutzengel stets das Allerschlimmste.

Der unerfahrene Nanael brauchte noch ein Jahr, um erwachsen zu werden und mitfliegen zu dürfen. Plötzlich entdeckte er etwas Glitzerndes am Ende der Wolke. Er flog hin, um dort genauer nachzusehen.

Engel mit Laute

„Ah, das war es, einer der Weihnachtsengel hatte seine Laute vergessen“, Nanael inspizierte das Instrument und zupfte vorsichtig an den Saiten. Ein paar leise Töne ließen sich entlocken. Er versuchte es erneut – und siehe da, schon nach kurzer Zeit konnte er ein erstes Weihnachtslied spielen. Seine Langeweile war ab sofort dahin. Nanael übte jeden Tag neue Weihnachtslieder.

Inzwischen hatte der Weihnachtsengel überall nach seiner verlorenen Laute gesucht, aber keiner der anderen Engel wusste, wo sie sein könnte. Eines Tages hörte er in der Ferne leise Musik. Er flog vorsichtig näher heran und sah dem mit Begeisterung spielenden kleinen Schutzengel eine ganze Weile lang zu.

„Hallo, du spielst aber schön! Ist das deine Laute?“

„Nein, leider nicht, ich habe sie gefunden. Aber bislang wusste keiner von uns Schutzengeln, wem sie vorher gehört hat.“

„Na, die Frage kann ich dir schnell beantworten. Ich habe die Laute beim letzten Adventskonzert hier vergessen.“

Nanael machte enttäuscht Platz für den Weihnachtsengel.

„Schade, es hat mir sehr viel Spaß gemacht, darauf zu spielen.“

„Weißt du was, wenn du möchtest, kannst du bei unserem nächsten Konzert dein Lieblingslied vorspielen. Ich leihe dir die Laute ab und zu zum Üben aus.“

Nanael strahlte und seine Wangen glühten vor Aufregung und Begeisterung.

„Vielen Dank, das ist sehr nett von dir. Ich werde mir Mühe geben.“

Nanaels erstes Konzert war ein Riesenerfolg. Er entlockte den Saiten die schönsten Melodien und verzauberte alle Weihnachts- und Schutzengel mit seiner Musik. Als Belohnung erhielt er von ihnen zu Weihnachten seine eigene Laute.

„Weißt du, Nanael, wenn du später einmal einen Schutzengelauftrag übernimmst, kannst du alle Menschen, die du gerettet hast, zusätzlich mit deinen Liedern trösten."

Für den jungen Schutzengel verging die Wartezeit bis zu seinem ersten Einsatz wie im Flug – hatte er doch seine zweite Saite, die Musik, für sich entdeckt.




Spitzbergen

Eine zauberhafte Idee

„Hui Donner und Blitz, hui Rudolf und Komet!“, immer wieder waren die aufmunternden Rufe des Nikolauses in der glasklaren Nordpol-Luft zu hören. Seine Rentiere strengten sich sehr an, um Schlitten und Geschenke in die Luft zu ziehen. Aber der Anlauf auf der Eisscholle war zu kurz.

Im vergangenen Jahr hatte der Nikolaus häufig mit ihnen darüber gesprochen, dass das Eis am Nordpol wegen der Erderwärmung langsam schmelzen würde. Aber niemand hatte es ihm wirklich geglaubt. Sorgenvoll schauten sie sich die Eisschollen an, die Stück für Stück von ihrer Startbahn abgebrochen waren und im Wasser trieben. Nur ein großer Zauber konnte jetzt noch weiterhelfen.

Der Nikolaus und seine acht Rentiere dachten angestrengt nach. Wer konnte aus den umher schwimmenden Eisschollen wieder eine lange und spiegelglatte Startbahn für sie machen?

Donner hatte eine Idee: „Habt ihr schon einmal vom großen Rentiergeist gehört, der soll gut zaubern können. Und dann könnten wir die Zahnfee und Frau Holle herbeirufen, dazu noch das Christkind mit den treuesten Schutzengeln und ein paar Weihnachtswichtel. Wenn alle sich einen gemeinsamen Zauberspruch ausdenken und wir noch goldenen Milchstraßenstaub ausstreuen würden – dann könnte es uns gelingen, neues Eis zu zaubern. Was meint ihr? Ein Versuch wäre es wert – den Kindern auf der Welt zuliebe. Die sind superenttäuscht, wenn alle Stiefel und Socken für immer leer bleiben würden.“

Der Nikolaus nickte. „Gut, was können wir schon verlieren! Donner, übernimm du bitte den Besuch beim großen Rentiergeist. Blitz, du suchst schnell die Zahnfee und Frau Holle. Rudolf, bitte das Christkind mit den Schutzengeln zu uns. Und Komet hole bitte die fleißigsten Weihnachtswichtel aus der Spielzeugwerkstatt zu uns her. Ich fülle dann noch Milchstraßenstaub in einen großen Sack ab, denn davon benötigen wir in diesem Jahr mehr als sonst.“

Alle eilten davon. In weniger als zwei Stunden saßen sie erneut im Haus des Nikolauses zusammen und dachten angestrengt darüber nach, wie sie es anstellen sollten, eine Eisbahn zu zaubern.

„Wir benötigen alle Eisschollen, die um uns herum im Wasser treiben. Dann brauchen wir etliche dicke Seile, mit denen wir sie aneinander binden. Warmes Wasser in Eimern, Schnee von Frau Holle und zuletzt einen wirklich guten Zauberspruch, wenn unsere Idee Wirklichkeit werden soll“, fasste der große Rentiergeist zusammen. „Einverstanden?“ Alle nickten. „Gut, dann lasst uns anfangen.“

Schon bald darauf waren die Eisschollen fest aneinander gebunden und ihre Kanten mit warmen Wasser geglättet. Frau Holle hatte es pausenlos schneien lassen, damit die Schutzengel die größten Löcher zwischen den Eisschollen stopfen konnten.

Jetzt stärkten sich alle mit heißem Kakao und mit leckeren Weihnachtsplätzchen, bevor sie sich an den Händen fassten und sich dem schwersten Teil ihres Planes zuwendeten – dem Zauberspruch. Der große Rentiergeist, da waren sich alle einig, sollte ihn sprechen.

 

„Geist der Weihnacht bleib erhalten

und lass das Wasser schnell erkalten.

Schließe gründlich alle Lücken

zu unser allergrößtem Entzücken.

Schick den Schlitten auf die Reise

und Nikolaus in die Kinderzimmer leise.“

 

Während das Christkind und die Schutzengel zur gleichen Zeit für den Nikolaus und seine Rentiere beteten, hielt die Zahnfee ihren goldenen Feenstab über alle Köpfe.

Ein dumpfes Geräusch war zu hören, dann quietschte und krachte es. Nach und nach setzte sich eine Eisscholle lückenlos an die andere, wie ein riesengroßes Eis-Puzzle. Alle klatschten vor Freude in die Hände.

„Gut gemacht“, lobte der große Rentiergeist das Rentier Donner. „Dank deiner Idee könnt ihr gleich losfliegen. Frau Holle wird noch ein bisschen Schnee für euch verstreuen. Genug Milchstraußenstaub zum Fliegen habt ihr inzwischen, wenn es etwas holprig auf dem Eis werden sollte.“

Alle wünschten dem Nikolaus und seinen treuen Rentieren nun eine gute Reise. Dann schoben sie den Schlitten an und winkten so lange hinter dem Nikolaus her, bis er nur noch als winziges glitzerndes Pünktchen am Horizont zu erkennen war.

Spitzbergen

Gefalteter Engel

Die verschwundenen Seiten

Amelie saß geduldig neben ihrer Mutter und Großmutter in der Kirchenbank und sang Weihnachtslieder, so gut sie es für ihre sieben Jahre konnte. Obwohl Amelie den ganzen Sommer über gemault hatte, beide Erwachsenen ab und zu in die Kirche zu begleiten und sich Ausreden ausdachte, um nicht hingehen zu müssen, war sie erstaunlicherweise in der Adventszeit immer mit Begeisterung dabei, wenn es hieß: ‚Wir gehen morgen in die Kirche.‘

„Omi und Mami, ich lege die Gesangbücher für euch gleich wieder ins Regal zurück, dann habt ihr mehr Zeit, euch mit den Nachbarn zu unterhalten.“

Großmutter und Mutter wunderten sich über Amelies Eifer, aber zu Weihnachten gibt es bekanntlich viele Wunder. Oder lag es daran, dass die junge Dame dem Christkind und ihrem langen Wunschzettel zuliebe bis zum Heiligen Abend superbrav sein wollte? Egal, sie freuten sich über Amelies Gesellschaft! Der Pfarrer hatte sie an den vorherigen drei Adventssonntagen stets freundlich begrüßt und ihr sowie der Familie eine schöne Vorweihnachtszeit gewünscht.

Nach dem Segen für die Gemeinde griff Amelie die drei Gesangbücher und schlängelte sich schnell durch die Erwachsenen, um vor allen als Erste am Regal zu sein. Doch statt die Bücher direkt ins Fach zu legen, blätterte sie flink darin, riss jeweils zwei Seiten mit unterschiedlichen Liedern heraus und versteckte sie vorsichtig in ihrer Manteltasche. Die Seitenzahl, bei der die Weihnachtslieder im Gesangbuch begannen, kannte sie von den vergangenen drei Sonntagen.

„Eine Lücke im Buch ist nicht so schlimm“, fand Amelie. „Die meisten Erwachsenen kennen die Lieder ohnehin auswendig. Und die anderen sollten einfach beim jeweiligen Nachbarn ins Gesangbuch sehen.“ Diese kindlich-optimistische Meinung teilten nicht alle Gottesdienstbesucher mit ihr. Einige von ihnen hatten sich schon über die verschwundenen Seiten geärgert.

Nach der Kirche zu Hause angekommen nahm sie kurze Zeit später die sechs Liederbuchseiten aus ihrer Manteltasche und verschwand sofort damit im Kinderzimmer. Eifrig faltete sie die Seiten zu kleinen Fächern. Jeweils zwei Fächer verknotete sie geschickt mit einer goldenen dünnen Kordel. Dann zog sie die Kordel durch eine Holzkugel – und fertig war wieder ein niedlicher Weihnachtsengel. Im Nu kamen noch zwei kleine Engelchen hinzu. Amelie zog eine große Weihnachtsdose unter ihrem Bett hervor, öffnete den Deckel und nahm alle seit dem 1. Advent gebastelten Weihnachtsengelchen heraus, um sie sicher­heitshalber zu zählen.

„Puh, geschafft – das war wirklich knapp!“ Neun Weihnachtsengel waren pünktlich für den Heiligen Abend fertig. Die Bastelanleitung stammte von Marah, der großen Schwester ihrer Freundin. Allerdings hatte Marah Seidenpapier mit goldenen Sternchen zum Basteln benutzt. So viel Taschengeld bekam Amelie jedoch nicht. Ihr Geld reichte gerade für die goldenen Kordeln und die neun Holzkugeln.

Glücklicherweise hatte Omi ihr vor Beginn der Adventszeit erzählt, dass die Kirchengemeinde wahrscheinlich irgendwann im nächsten Jahr neue Gesangbücher kaufen müsse. Die Reihenfolge der Lieder ändere sich, einige Lieder würden zukünftig durch neue ersetzt. Das mache die alten Gesangbücher für den Gottesdienst unbrauchbar.

Dieser Hinweis von Omi hatte Amelie auf die Idee gebracht. Statt all‘ die schönen Weihnachtslieder wegzuwerfen, könnte sich wenigstens ihre Familie zur Bescherung am Heiligen Abend darüber freuen, dass einige der schönsten Lieder – wie zum Beispiel ‚Stille Nacht, heilige Nacht!‘ – als Weihnachtsengel dauerhaft gerettet seien.


Wolken

Santa in der Cloud

 

Santa Claus flog mit seinem Schlitten über eine dicht besiedelte Großstadt, deren Lichter vom Abendhimmel aus betrachtet wohlige Wärme ausstrahlten. Heute war er sehr zufrieden mit seinem Zeitplan, denn er hatte zusammen mit seinen Rentieren fast alle Geschenke an Groß und Klein verteilt. Diese Großstadt fehlte noch, außerdem ein paar kleine Dörfer, und sie könnten sich auf den Heimweg zum Nordpol machen.

Seine Rentiere freuten sich auf das frische Heu im Stall, und Santa Claus dachte an den großen Becher mit dampfendem Kakao, der zu Hause auf ihn wartete. Die Weihnachts­wichtel würden erstaunt sein, wie schnell sie in diesem Jahr zurückkämen.

Plötzlich wackelte der Schlitten hin und her, verlor an Höhe, und die Rentiere kamen aus dem gleichmäßigen Galoppschritt.

"Was war das? Der Himmel ist heute sternenklar, und keine Regenwolken sind zu sehen." Santa Claus überprüfte alle Instrumente. Der Schlitten besaß seit letztem Weihnachten die neueste Technik: einen Navigator, gute Bremsen, Antiwacklung und eine perfekte Windschlüpfrigkeit. Seine Rentiere begleiteten ihn seit Jahren und kannten sich mit allen Luftströmungen aus. Daran konnte es also nicht liegen!

Wieder – ein neuerlicher Ruck erschütterte den Schlitten, und er sank weiter in Richtung Erde herab.

"Wenn das so weitergeht, müssen wir notlanden! Ich verstehe das nicht, die Instrumente zeigen nichts Verdächtiges an. Nur der Höhenmesser funktioniert scheinbar nicht ganz richtig. Rudolf, kannst du das verstehen?" – Sein erfahrenstes Rentier schüttelte den Kopf.

Glücklicherweise funktionierte die Technik des Schlittens nach einigen Kilometern wieder, und das Gespann flog mit hoher Geschwindigkeit durch den Nachthimmel, so dass alle Weihnachtsgeschenke pünktlich verteilt waren.

Zeitgleich wunderte sich Luka, dass das Internet in seinem Kinderzimmer nicht mehr funktionierte und er seinen Kinderfilm nicht anschauen konnte. Kleine Störstreifen liefen von rechts nach links durch den Bildschirm seines Laptops und verschwanden plötzlich wieder. Der Monitor blieb anschließend dunkel.

"Papa, kannst du mir helfen, mein Internet funktioniert nicht mehr? Ich habe nichts am Laptop gemacht, das Bild war einfach weg."

"Ja, mache ich, aber du musst dich gedulden, ich schaffe es erst etwas später. Stelle den Laptop schon mal in mein Büro, vielleicht finde ich die Störung. Trotzdem kann ich das nicht verstehen, denn dein Kinderfilm ist in unserer neuen Cloud und nicht auf deinem Laptop gespeichert. Bis heute hat die Technik mit allen Daten, die wir dort gespeichert haben, auf unseren Computern perfekt funktioniert."

Kurze Zeit später saß Lukas Vater vor dem Laptop und traute nach mehrmaligem Wiederholen der Störung seinen Augen nicht. Santa Claus war mit seinen Rentieren schemenhaft auf dem Bildschirm zu erkennen, wie er an den Instrumenten seines Schlitten klopfte und verständnislos den Kopf schüttelte. Ein paar Gesprächsfetzen ließen sich erahnen, ungefähr wie: "... wir müssen die Geschenke verteilen ... wenn es hell wird, ...alle Kinder ... wach ... klappt das nicht ... irgendwelche elektrischen Störungen ... in den Wolken ... ich kann mir das nicht erklären ... oh je ... hoffentlich ist das bald wieder vorbei ...".

"Das gibt es doch nicht!" – Lukas Vater war sprachlos. Konnte es möglich sein, dass Santa Claus mit Rentieren samt Schlitten die Cloud der Familie durchflogen hatte und dadurch vom Weg abgekommen war?

Lukas Vater beschloss, seinem Sohn nichts von seiner Beobachtung zu erzählen. Das sollte sein Geheimnis bleiben. Aber auf alle Fälle wollte er in der nächsten Weihnachtsnacht schon bei Einbruch der Dunkelheit alle Computer im Haus abschalten, damit Santa Claus ohne Störungen durch die Abendwolken und die digitale Cloud fliegen könnte.

Wolken

Kinderstiefel im Schnee

Ein außergewöhnlicher Kinderwunsch

Mia beobachtete genau, was ihre Oma tat. Die 75-jährige Großmutter holte ein kuschliges Badehandtuch, das mit kleinen grünen Tannenbäumen verziert war, aus dem Badezimmerschrank und legte es auf einen Hocker in der Küche. Dann platzierte sie einen großen weiß-blauen Behälter neben ihrem Küchenstuhl auf den Fußboden und befüllte das Gefäß mit handwarmen Wasser. Außerdem stellte sie ein winziges Fläschchen auf den Küchentisch, holte ein Stromkabel und schloss dieses am Behälter an.

"Am besten auf Stufe 3 einstellen", murmelte Oma Hilde. Kurz darauf sprudelte das Wasser im Behälter. "So, jetzt etwas Rosenwasser dazu schütten, und schon kann es losgehen."

Mias Großmutter zog ihre Seidenstrumpfhose aus, schlug den Rock etwas nach oben und steckte beide Füße genussvoll in den Behälter. "Ah, das tut gut!" Eine angenehme Rosenduftwolke aus warmem Wasserdampf umhüllte die beiden kurz darauf.

"Oma, warum machst du das?", fragte Mia neugierig.

"Ach, mir schmerzen meine Füße so. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so lange unterwegs zu sein. Außerdem hatte ich heute nicht meine bequemen Schuhe an, weil ich mich für dich besonders chic machen wollte. Wann können wir schon 'mal zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen!"

Oma Hilde hatte sich ihr Outfit tatsächlich für Weihnachtsmarktbummel mit ihrer Enkelin sorgfältig ausgewählt: einen anthrazitfarbenen eleganten Wintermantel, einen bordeauxfarbenen Hut, einen gleichfarbigen Stockschirm und farblich passende modische Schuhe. Schließlich wollte sie nicht wie eine 75-jährige unmoderne Oma wirken, wenn sie mit ihrer Enkelin unterwegs war. Selbst wenn ihre Schuhe einen höheren Absatz hatten und sich nicht wirklich für einen mehrstündigen Aufenthalt auf dem Weihnachtsmarkt eigneten. Der Hut sollte ihren Kopf schön warm halten, und den Stockschirm hatte sie nur als Tarnung mitgenommen. Keiner sollte sehen, dass sie sich ab und zu aufstützen musste, wenn ihre Enkelin mit einem der Kinderkarussells fuhr und sie selbst davor wartete.

Die fünfjährige Mia dachte ähnlich: Sie wollte sich für den Bummel mit Oma besonders schön anziehen. Bevor ihre Mutter sie zur Oma bringen konnte, war es zwischen Mutter und Tochter zu einem kleinen Kampf um die passenden Anziehsachen gekommen. So durfte die Kleine zwar den neuen blauen Wintermantel anziehen und ihre passende Pudelmütze inklusive der neuen Handschuhe tragen. Damit war ihre Mutter nach einer kleinen Diskussion einverstanden. Als Mia jedoch die gelben Gummistiefel aus dem Schuhschrank zog, begann der heftigere Streit um die Kleidungsfrage.

"Die sind dir doch viel zu klein! Wir haben nur vergessen, sie im letzten Winter in den Schuhcontainer zu werfen. Deine großen Zehen werden dir schon weh tun, wenn ihr durch den Schnee bis zur Stadtbahn gelaufen seid. Auf dem Weihnachtsmarkt wollt ihr euch den Märchen-Zauberwald, die Buden und den großen Baum anschauen. Oma hat mir ferner gesagt, dass du heute so oft mit den Kinderkarussells fahren darfst, wie du es möchtest. Und ich kenne euch, Hunger auf Pommes und auf etwas Süßes habt ihr beide ebenfalls. Das alles dauert, und du kannst nicht mehr in deinen Stiefeln laufen."

"Nein, die passen mir noch!" Mias Protest war letztlich erfolgreich, und ihre Mutter hatte entnervt aufgegeben.

Auf dem Weihnachtsmarkt waren Oma und Enkelin vielen sofort aufgefallen: eine modisch gekleidete ältere Dame und ein fröhliches blondes Mädchen, das aussah wie die Enkelin des Nikolaus.

"Oma, ich verrate dir ein Geheimnis." Mia rückte mit ihrem Stuhl näher an ihre Großmutter heran. "Aber nachher bitte nichts zu Mama sagen."

"Nein, das verspreche ich dir. Also 'raus mit der Sprache."

"Meine Füße tun mir weh, Oma. Aber ich wollte unbedingt meine gelben Stiefel anziehen, weil sie so schön sind. Mama hat mir gesagt, die sind mir jetzt zu klein. Dürfen meine Füße auch in deine Schüssel?"

"Das ist ein Fußbad", antwortete Oma Hilde. "Na, dann 'mal los! Hol' uns bitte noch vorher ein paar Weihnachtskekse, etwas zu trinken und dein Weihnachtsbuch. Anschließend zieh' schnell deine Strümpfe aus, und steck' deine Füße dazu. Das passt schon! Ich lese dir zugleich eine Weihnachtsgeschichte vor."

Kurz darauf genossen zwei junge und zwei alte Füße die wohlige Wärme und Massage nach dem langen Tag.

"Das war schön, Oma! Jetzt tun mir meine Füße gar nicht mehr so weh!" Mia bewegte ihre kleinen Zehen hin und her. "Ich sage Mama aber nicht, dass mir die Stiefel doch zu klein waren. So ein Fußbad wünsche ich mir auch."

Mias Mutter war überrascht, dass ihre Tochter später nicht über schmerzende Füße klagte - im Gegenteil, sie war fröhlich und hatte gerade den Wunschzettel für das Christkind an die Fensterscheibe des Kinderzimmers geklebt. Ihre Mutter konnte ihn allerdings nicht deuten.

Mia hatte ein Bild gemalt: eine pinkfarbene Kiste mit einem blauen Kreis, der einem mit gelben, roten, orangen und grünen Perlen gefüllten Wasserbecken glich. Dann gab es drei Stufen aus kleinen Schalen, die aussahen wie ein Mini-Wasserfall. Darin lagen ebenfalls bunte Perlen. Es schien, als würde ein Wasserrad die Perlen immer wieder von unten nach oben hochholen und über den Wasserfall in den Kreis fallen lassen. Außerdem hatte Mia drei kleine Fläschchen auf den Wunschzettel gemalt, eine von ihnen mit einer Rose verziert, die zweite mit einem Tannenzweig und die dritte trug ein Etikett, das einem Schokoriegel glich. Drei dicke Buchstaben prangten auf der Kiste - obwohl Mia nicht schreiben konnte: F - K - G.

Wunschzettel Fußbad

"Mia, was soll dir das Christkindchen bringen? Möchtest du mir das verraten?"

"Ja, ein Fußbad - aber eins für Kinder, die so alt sind wie ich."

"Wie kommst du denn darauf?"

"Oma Hilde und ich haben heute unsere schmerzenden Füße in ihrem Fußbad gebadet und massiert. Danach war alles wieder gut."

"Aha! Und was bedeuten die Fläschchen, die du gemalt hast?"

"Duftwasser für das Fußbad: aus Rosen, Tannenzweigen und Schokolade. Das mögen Kinder alles gerne. Steht hier:

F - K - G. Für Kinder gut!"

"Wie kommst du auf die Buchstaben? Hat Oma dir beim Schreiben geholfen?"

"Ja, ich habe bei ihr angefangen, den Wunschzettel zu malen. Auf Oma Hildes Fußbad stehen auch drei Buchstaben. Oma hat gesagt, das ist die Firma, die das Fußbad gemacht hat. Deshalb muss meines ebenfalls einen Namen haben. Das Christkind weiß schon, welches Kinderfußbad ich meine!"