Schutzengel Samuel

Anders sein ist für manches gut

Samuel saß in der letzten Reihe allein an seinem Tisch im Klassenzimmer, damit ihn möglichst wenige von den anderen Engeln sehen konnten. Alle hatten gerade ihre letzte Prüfung als Schutzengel abgelegt. In wenigen Minuten sollten sie von Golema, dem Lehrerengel, hören, wohin sie fliegen müssten, um als Schutzengel jederzeit über die Menschen zu wachen.

"Hoffentlich ist dieser Tag bald vorbei", dachte Samuel, "dann kann ich endlich wieder zurück zu meiner Lieblingswolke fliegen, die niemand außer mir kennt. Dort habe ich wenigstens meine Ruhe!"

Diese trüben Gedanken waren ungewöhnlich für einen Schutzengel, aber all das hatte seinen guten Grund.

Schon als kleiner Engel wurde er von den anderen mit Fragen gelöchert, warum seine Flügel schwarz und nicht weiß wie bei ihren wären.

Darauf antwortete er leise: "Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich bin so auf die Welt gekommen, sagen meine Eltern."

Manchmal neckten ihn die anderen kleinen Engelchen mit Sätzen wie: 'Bist du versehentlich in eine Kohlengrube, in einen Schornstein, in Teer oder Blumenerde geflogen?', Hast du mit schwarzer Schuhcreme gespielt?'.

An solchen Tagen flog der kleine Schutzengel gekränkt weit weg auf seine Wolke und weinte leise vor sich hin, bevor er zu seinen Eltern heimkehrte.

Natürlich kannten sie ihren außergewöhnlich aussehenden Nachwuchs zu gut, um nicht zu bemerken, was die Gründe für seinen Umweg und die verweinten Augen waren.

"Mein kleiner Schutzengel, sei doch nicht so traurig wegen deiner schwarzen Flügel", tröstete ihn seine Mutter, die schon viele Einsätze als Schutzengel geflogen hatte. "Eines Tages wirst du bestimmt gerade wegen deiner Flügel eine besondere Aufgabe als Schutzengel erfüllen. Warte nur geduldig ab!" Ein zärtlicher Kuss von seiner Mutter auf die rosigen Wangen ließ ihn seine Traurigkeit für kurze Zeit vergessen.

Auch sein Vater glaubte fest daran, dass Samuel, sobald er ein ausgebildeter Schutzengel wäre, gerade wegen seiner schwarzen Engelsflügel zu besonderen Taten berufen sein würde.

"So, liebe Schutzengel, kommt bitte einmal zu mir!", bat Golema. Samuel schreckte aus seinen Gedanken auf. "Ich freue mich, dass ihr alle heute eure letzte Prüfung bestanden habt. Und jetzt verrate ich euch, wen ihr zukünftig beschützen werdet."

Golema las aus ihrer Liste einen Namen vor und nannte anschließend den Namen des Schutzengels, der sich ab diesem Tag in der Nähe der entsprechenden Person aufhalten und über sie wachen oder sie beschützen sollte.

"Samuel, für dich habe ich eine besondere Aufgabe."

Der Schutzengel zuckte zusammen, weil er trotz bestandener Prüfung nicht sicher war, ob er wegen seiner schwarzen Flügel zukünftig überhaupt ein richtiger Schutzengel sein könnte.

"Du sorgst ab sofort dafür, dass die Menschen, die als Schornsteinfeger oder Dachdecker arbeiten, immer das Gleichgewicht behalten und dass es ihnen gut geht, wenn sie in schwindelnder Höhe ihre Arbeit verrichten. Und das Besondere dabei ist, du kannst auf den dunklen Dachpfannen ganz nah bei ihnen sein, weil sie dich wegen deiner schwarzen Flügel nicht sehen können. Du kannst ihnen sofort helfen, falls sie ausrutschen sollten. Weißt du, anders sein ist für manches gut!"

Samuel strahlte über das ganze Gesicht und seine Wangen glühten vor Freude. Ab sofort würde er liebend gern seine einsame Wolke gegen dunkle Dächer eintauschen.