Gefalteter Engel

Die verschwundenen Seiten

Amelie saß geduldig neben ihrer Mutter und Großmutter in der Kirchenbank und sang Weihnachtslieder, so gut sie es für ihre sieben Jahre konnte. Obwohl Amelie den ganzen Sommer über gemault hatte, beide Erwachsenen ab und zu in die Kirche zu begleiten und sich Ausreden ausdachte, um nicht hingehen zu müssen, war sie erstaunlicherweise in der Adventszeit immer mit Begeisterung dabei, wenn es hieß: ‚Wir gehen morgen in die Kirche.‘

„Omi und Mami, ich lege die Gesangbücher für euch gleich wieder ins Regal zurück, dann habt ihr mehr Zeit, euch mit den Nachbarn zu unterhalten.“

Großmutter und Mutter wunderten sich über Amelies Eifer, aber zu Weihnachten gibt es bekanntlich viele Wunder. Oder lag es daran, dass die junge Dame dem Christkind und ihrem langen Wunschzettel zuliebe bis zum Heiligen Abend superbrav sein wollte? Egal, sie freuten sich über Amelies Gesellschaft! Der Pfarrer hatte sie an den vorherigen drei Adventssonntagen stets freundlich begrüßt und ihr sowie der Familie eine schöne Vorweihnachtszeit gewünscht.

Nach dem Segen für die Gemeinde griff Amelie die drei Gesangbücher und schlängelte sich schnell durch die Erwachsenen, um vor allen als Erste am Regal zu sein. Doch statt die Bücher direkt ins Fach zu legen, blätterte sie flink darin, riss jeweils zwei Seiten mit unterschiedlichen Liedern heraus und versteckte sie vorsichtig in ihrer Manteltasche. Die Seitenzahl, bei der die Weihnachtslieder im Gesangbuch begannen, kannte sie von den vergangenen drei Sonntagen.

„Eine Lücke im Buch ist nicht so schlimm“, fand Amelie. „Die meisten Erwachsenen kennen die Lieder ohnehin auswendig. Und die anderen sollten einfach beim jeweiligen Nachbarn ins Gesangbuch sehen.“ Diese kindlich-optimistische Meinung teilten nicht alle Gottesdienstbesucher mit ihr. Einige von ihnen hatten sich schon über die verschwundenen Seiten geärgert.

Nach der Kirche zu Hause angekommen nahm sie kurze Zeit später die sechs Liederbuchseiten aus ihrer Manteltasche und verschwand sofort damit im Kinderzimmer. Eifrig faltete sie die Seiten zu kleinen Fächern. Jeweils zwei Fächer verknotete sie geschickt mit einer goldenen dünnen Kordel. Dann zog sie die Kordel durch eine Holzkugel – und fertig war wieder ein niedlicher Weihnachtsengel. Im Nu kamen noch zwei kleine Engelchen hinzu. Amelie zog eine große Weihnachtsdose unter ihrem Bett hervor, öffnete den Deckel und nahm alle seit dem 1. Advent gebastelten Weihnachtsengelchen heraus, um sie sicher­heitshalber zu zählen.

„Puh, geschafft – das war wirklich knapp!“ Neun Weihnachtsengel waren pünktlich für den Heiligen Abend fertig. Die Bastelanleitung stammte von Marah, der großen Schwester ihrer Freundin. Allerdings hatte Marah Seidenpapier mit goldenen Sternchen zum Basteln benutzt. So viel Taschengeld bekam Amelie jedoch nicht. Ihr Geld reichte gerade für die goldenen Kordeln und die neun Holzkugeln.

Glücklicherweise hatte Omi ihr vor Beginn der Adventszeit erzählt, dass die Kirchengemeinde wahrscheinlich irgendwann im nächsten Jahr neue Gesangbücher kaufen müsse. Die Reihenfolge der Lieder ändere sich, einige Lieder würden zukünftig durch neue ersetzt. Das mache die alten Gesangbücher für den Gottesdienst unbrauchbar.

Dieser Hinweis von Omi hatte Amelie auf die Idee gebracht. Statt all‘ die schönen Weihnachtslieder wegzuwerfen, könnte sich wenigstens ihre Familie zur Bescherung am Heiligen Abend darüber freuen, dass einige der schönsten Lieder – wie zum Beispiel ‚Stille Nacht, heilige Nacht!‘ – als Weihnachtsengel dauerhaft gerettet seien.