Engel

Pechtag für den Schutzengel

Heute, am vierten Adventssonntag, beschützte Raphael, der kleine Engel, wieder Leonore, über die er seit ihrer Geburt die Schwingen ausgebreitet hatte. Er war sozusagen ihr „himmlischer Zwilling“ geworden und folgte ihr auf Schritt und Tritt mit Engelsgeduld. Manchmal allerdings stellte Leonore ihren Schutzengel auf harte Proben. Der hilfsbereite Raphael bewahrte den kleinen Wildfang zwar immer vor großem Unheil, zog sich aber bei seinen Rettungsaktionen mitunter selbst einige kleinere Blessuren zu. Ab und zu musste er auch ein gutes Wort für Leonore beim lieben Gott einlegen, wenn sie unrecht gehandelt hatte.

Gerade ging wieder ein Hilferuf von seinem Schützling bei ihm ein:

„Lieber Schutzengel. Bitte komm sofort zum Baggersee! Ich bin im Eis eingebrochen und komme allein nicht wieder raus. Eigentlich durfte ich nicht aufs Eis. Bitte hilf mir! Schnell!“

Raphael flog los und erreichte die Eisfläche fast mit Überschallgeschwindigkeit. Er schwebte niedrig über ihr, um sie besser am Arm packen und herauszuziehen zu können. Dabei tunkte er versehentlich seine Flügelspitzen ins eiskalte Wasser. Kurz darauf spielten kleine Eiszapfen an seinen Flügelspitzen eine leise Melodie.

Desto flinker Raphael durch die Luft flitzte, desto lauter wurde die Eiszapfenmusik. Der himmlische Bodyguard bekam alsbald Kopfschmerzen von dem Eiszapfensound. Deshalb hielt er seine ausgebreiteten Flügel in die Sonne, um die Zapfen zu schmelzen. Nur einen behielt er als kleine Erfrischung zurück. Kaum hatte Raphael den Eiszapfen zu Ende gelutscht, machte Leonore den nächsten Unfug.

„Heute ist der 4. Advent und ich werde alle Kerzen anzünden“, dachte die Kleine. Dabei war ihr das Streichholz für die 4. Kerze brennend in den Kranz gefallen. Leonore wollte das Feuer mit dem Wasser aus der Blumenvase löschen, denn sie durfte die Kerzen nicht anzünden, ohne dass ein Erwachsener im Raum war. Leider reichte das Wasser nicht und die Tischdecke brannte nun ebenfalls. Leonore versteckte sich zuerst hinter dem Sofa. Als aber die Funken auf die Sofakissen übersprangen, lief sie schreiend zu ihrer Mutter in die Küche.

„Mamiiiiiii! Hilfe, es brennt! Ich wollte nur die Kerzen anzünden. Ein Hölzchen ist mir in den Kranz gefallen.“

Ihr Schutzengel musste zusammen mit der herbeigerufenen Feuerwehr eingreifen. Da er für die Menschen unsichtbar war, traf ihn plötzlich ein dicker Wasserstrahl aus dem Feuerwehrschlauch. Raphael ritt wie Münchhausen auf der Kanonenkugel auf dem Strahl durch das Wohnzimmer. Damit nicht genug. Ein zweiter Wasserstrahl erwischte ihn von rechts und der Engel purzelte kopfüber durch den Raum. Verdutzt landete er auf seinem Engelspo in einer Ecke. Die Falten seines Kleidchens hingen tropfnass herunter, ab und zu hatte es hässliche Brandflecke. Raphaels Locken sahen aus wie lange, gekochte Spagettis. Und sein Heiligenschein hatte ein paar dicke Rußflecken abbekommen.

„Oh nein! Nun muss ich mich komplett umziehen und dann noch meinen Heiligenschein wieder auf Hochglanz polieren.“

Raphaels riesige dunkle Augen, denen sonst eher die Spitzbübischkeit anzusehen war, glänzten verdächtig. Fast hätte der Schutzengel im Duett mit Leonore geweint. „So ein verflixter Pechtag. Eigentlich wollte ich das neue blaue Kleid erst am Heiligen Abend anziehen und nicht schon heute. Oder? Mir kommt da eine Idee! Leonores Mutter hat doch einen Wäschetrockner.“

Raphael schwebte in den Keller, stopfte sein Kleid in den Trockner und wartete ungeduldig auf das Programmende.

„Ach du liebe Güte! Mein schönes Kleid!“, Raphael war entsetzt. Der kleine Schutzengel hatte den falschen Knopf gedrückt. Sein Kleid kam ungefähr um zwei Nummern geschrumpft wieder aus dem Trockner heraus und war eng wie eine Wurstpelle. Raphael befürchtete, die Nähte platzten beim nächsten Einsatz.

Glücklicherweise schlief Leonore nach der ganzen Aufregung tief und fest in ihrem Bett.

Währenddessen stopfte ihr Schutzengel die Löcher im Kleid und wartete an ihrer Seite sehnsüchtig auf das Ende dieses anstrengenden Adventstages. Morgen hatte er frei. Zuerst musste er sich nach einem anderen Kleid umsehen. Anschließend wollte er seinen eigenen Wunschzettel ans Christkind schreiben. Raphael überlegte schon:

„Liebes Christkind,

sicher kennst du mich noch. Ich habe zusammen mit den Weihnachtsengeln die Sterne geputzt, Plätzchen gebacken und viele Wunschzettel der Kinder entziffert.

Du weißt, dass ich unter keinen Umständen von Leonores Seite weiche und meine Aufgaben als Schutzengel gewissenhaft erfülle. Manchmal gerate ich als dienender Geist allerdings selbst in Not. Und deshalb habe ich nur einen einzigen Wunsch an dich: Bitte schicke mir meinen eigenen Schutzengel!“

Dein Raphael