Nymphensittich

Der Weihnachtsschlüssel

Das Jahr war wieder einmal an unserer kleinen Familie vorbeigezogen, und ehe wir uns versahen, war es Heiligabend. Unsere beiden Mädchen, Kim und Joana, 7 und 9 Jahre alt, konnten es nicht erwarten, bis endlich das Christkind zu uns kam.

Ein Blick ins Wohnzimmer war ihnen bereits seit dem Vorabend nicht mehr möglich. Die Glasscheibe der Wohnzimmertür wurde traditionell mit einer Decke zugehängt. Auch das Blinzeln durchs Schlüsselloch war hoffnungslos. Eine weitere kleine Tradition – das wussten unsere beiden Mädchen – bestand darin, die Wohnzimmertür abzuschließen, den Schlüssel abzuziehen und das Schlüsselloch mit Engelhaar zu verstopfen.

Richtig spannend wurde bei uns am frühen Nachmittag des Heiligen Abends. Die Weihnachtsschlüssel-Suche – nach dem versteckten Wohnzimmerschlüssel – konnte beginnen. Eine List der Erwachsenen, um die beiden kleinen Ungestüme zu beschäftigen und nach dem Kindergottesdienst noch etwas Zeit für die Vorbereitung des Festessens zu gewinnen. Zum Versteck gehörte neben Küche und Korridor auch das Arbeitszimmer. Hier hatte auch unserer Papagei Jakob in den Vorjahren Kim und Joana laut krächzend bei der Weihnachtsschlüssel-Suche unterstützt.

Kim kroch unter den Küchentisch, während Joana den Schuhschrank und die Kommode im Korridor genauer inspizierte. Dort hatte sie im vorletzten Jahr den Weihnachtsschlüssel in ihren Winterstiefeln gefunden. Ein weiterer Tipp kam von Kim: Der Schlüssel könne im Gefrierfach des Kühlschranks liegen und inzwischen zu Eis erstarrt sein. – Fehlversuch!

Beide suchten inzwischen gemeinsam im Arbeitszimmer. Jakob krächzte immer lauter, desto intensiver die beiden Mädchen suchten. Ab zu und plapperte er etwas daher, aber beide achteten nicht auf ihn.

„Was machen wir bloß, wenn wir den Schlüssel heute nicht mehr finden?“ Kim war besorgt, dass der Heilige Abend für beide ausfallen könnte. Joana tröstete ihre kleine Schwester: „Bestimmt nicht, wir haben ihn bislang stets rechtzeitig gefunden. Komm‘, wir suchen noch mal hinter der Gardine und auf Papas Schreibtisch!“

Inzwischen wurden wir, die Erwachsenen, ebenfalls etwas unruhig. Eigentlich hätten unsere beiden Mädchen den Weihnachtsschlüssel längst neben ihrem Foto auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer finden müssen.

Mein Mann und ich unterstützten nun die beiden bei der Suche mit den kleinen Wörtchen „heiß“ und „kalt“, um sie auf die richtige Weihnachtsfährte zu bringen. Wir tauschten einen fragenden Blick aus – der Weihnachtsschlüssel lag nicht mehr neben dem Foto unserer Töchter, und auf den Fußboden war er ebenfalls nicht. Nun konnte nur noch unsere Haushälterin weiterhelfen, die uns am Vorabend bei den Weihnachtsvorbereitungen ausgeholfen hatte. Während mein Mann zum Telefonhörer griff, suchten Joana, Kim und ich zu dritt nach dem Weihnachtsschlüssel.

Jakob krächzte immer lauter, lief aufgeregt auf seinem Ast zwischen Käfig und Wand hin und her und plapperte kaum verständlich: „Weih, Weih, Schlü, Schlü!“

„Mama, hör mal, Jakob sagt irgendetwas, aber ich kann’s nicht verstehen“, Kim hatte inzwischen schon rote Wangen von der anstrengenden Suche.

„Ja, stimmt, ich weiß auch nicht, was er heute hat, so aufgeregt war er noch nie. Bestimmt merkt er, dass etwas bei uns nicht stimmt.“

Mein Mann legte den Hörer auf: „Fehlanzeige, Frau Martin hat den Schlüssel gestern nicht weggelegt. Sie konnte sich jedoch daran erinnern, dass er noch neben dem Foto der Kinder lag, als sie das Arbeitszimmer verließ.“

Ratlos und nachdenklich standen wir da. Jakob flatterte aufgeregt mit den Flügeln und landete auf Kims Schulter. Etwas glitzerte zwischen seinen starken Krallen.

„Mama, Papa, schaut mal, Jakob hat den Weihnachtsschlüssel gefunden!“ Joana war glücklich. „Jetzt weiß ich auch, was er zu uns gesagt hat, nämlich: ‚Weihnachtsschlüssel‘!“

„Nun ja – zukünftig werden wir wohl bei der Weihnachtsschlüssel-Suche alle besser auf Jakob aufpassen müssen, wenn das Christkind am Heiligen Abend rechtzeitig zu uns kommen soll“, schmunzelte mein Mann.