Kuh

Alles ist möglich

Agnesia tollte ausgelassen über die verschneite Weide. Die Bäuerin hatte alle Kühe am späten Vormittag dieses sonnigen Novembertages nach draußen gelassen. Sie meinte, sie sollten noch etwas frische Luft bekommen, bevor es in den nächsten Wochen mehr Schnee geben würde und der Weg zur Weide nicht mehr möglich sei.

Während sich alle anderen Kühe nur vorsichtig und langsam bewegten und einige Grashalme fraßen, die noch aus dem Schnee herausragten, rannte Agnesia pausenlos hin und her. Ab und zu setze sie zu kleineren Sprüngen an, als ob sie an einem Rodeo teilnehmen würde. Manchmal landete sie, statt auf ihren vier Hufen, mit dem Hinterteil oder mit den Hörnern im Schneematsch. Ihr sonst sauberes hellbraun glänzendes Fell war inzwischen gescheckt – eine klebrige Masse aus Schnee und Erdklumpen klebte daran fest und ihr Schwanz war triefnass.

Dorfbewohner, die das Schauspiel auf ihrem Spaziergang beobachteten, lachten lauthals über die Bocksprünge und Sprints dieser „dummen“ Kuh.

Selbst Agnesias Stallgenossen schüttelten ihre Köpfe verständnislos hin und her - dabei klingelten ihre Kuhglocken so laut, dass die Mittagsruhe im Dorf dahin war.

Agnesia rannte immer wieder von einem Ende der Weide zum anderen. Ihre Nasenlöcher waren weit geöffnet, und ihr Atem dampfte in der kalten Winterluft. „Sollten alle ruhig über sie lachen, das war ihr egal. Denn sie wusste ja genau, warum sie trainierte“, dachte Agnesia trotzig. Kürzlich hatte sie ihre Bäuerin mit einer besonders schönen Einkaufstüte gesehen. Umrahmt von einer Tannengirlande mit roten und goldenen Kugeln war in der Mitte der Tüte der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren vor einem verschneiten Tannenwald abgebildet.

Das weihnachtliche Gespann hatte offensichtlich eine Rast eingelegt. Die sechs Rentiere kauten frisches Heu, und der Weihnachtsmann saß in seinem Schlitten, wärmte sich mit einer flauschigen Wolldecke und trank ein Glas heiße Milch. Auf seinem Schoß lagen mit Zuckerperlen und Schokolade überzogene Weihnachtskekse.

„Alle sahen so glücklich und zufrieden aus“, fand Agnesia. Und das trotz der Weihnachtshektik, über die alle Menschen inzwischen stöhnten. Das wusste die Kuh von ihrer Bäuerin. Sie hatte ihrem Mann kürzlich beim Melken erzählt, was sie alles noch bis Weihnachten zu tun hätte: erst Hausputz machen, dann alles dekorieren, dann Weihnachtskekse backen, dann einkaufen, und, und, und...

Arbeit und Hektik schienen dem Weihnachtsmann und seinen Rentieren nichts auszumachen. Unter seinem weißen Bart konnte Agnesia ein zufriedenes Lächeln erkennen. Und das trotz der vielen bunten Päckchen und Jutesäckchen, die sich vor und hinter ihm auf dem grünen Holzschlitten auftürmten und ihm kaum Platz zum Atmen ließen. Sicherlich musste er zusammen mit seinen Rentieren noch alles bis zum Weihnachtsabend verteilen.

Kuh Agnesia

Agnesia beneidete die sechs Rentiere um die große Ehre, ihn auf seiner weiten Reise zu begleiten. Sie wünschte nichts sehnlicher als mit ihnen zusammen diesen Schlitten zu ziehen. Stark genug war sie schon, nach dem vielen Kraftfutter, das sie gefressen hatte. Allerdings wollte es mit dem Fliegen immer noch nicht klappen. Jeder Versuch, auch mit größtem Anlauf, war bislang gescheitert. Aufgeben wollte sie jedoch keineswegs.

Was Agnesia nicht wusste war, dass die Weihnachtswichtel sie seit längerem heimlich beim Training beobachtet und dem Weihnachtsmann von ihrem geheimsten Wunsch, den Schlitten zu ziehen, erzählt hatten.

„So viel Mühe muss doch belohnt werden, findet ihr nicht auch?“, fragte der Weihnachtsmann in die Runde. Alle nickten zustimmend.

Und so kam es, dass der Schlitten des Weihnachtsmanns erstmals von sechs Rentieren und Agnesia gezogen wurde.