Mit dem Christkind fliegen

Nele saß auf dem Wohnzimmer-Sofa und hielt ein Weihnachtsbuch in ihren kleinen Händen. Obwohl sie erst 4 Jahre alt war und natürlich nicht lesen konnte, wusste sie, wie viele Seiten sie bis zu ihrer Lieblings-Weihnachtsgeschichte umblättern musste. Ihre große Schwester hatte ihr die Geschichte viele Male seit Beginn der Adventszeit vorgelesen.

Jedes Mal fragte Nele ihre Schwester Sophie, wie es möglich sei, dass das Christkind fliegen könnte. Sie tippte mit ihren kleinen Fingern auf das Bild: "Schau', die Flügel sind klein und trotzdem geht es! Vielleicht sollten wir abends wie die beiden Kinder aus dem Fenster schauen?! Es kann sein, dass das Christkind bereits unterwegs ist, um die Wunschlisten abzuholen. Wenn es bei uns vorbeifliegt, sehen wir es bestimmt in seinem weißen und glitzernden Kleid." Ihre große Schwester nickte und schmunzelte.

Am nächsten Abend saß Nele bei Anbruch der Dunkelheit vor ihrem Kinderzimmerfenster und wartete gespannt auf das Christkind. Sie schaute nach links, nach rechts.

"Nichts!", murmelte sie enttäuscht. Sie beschloss, ab sofort jeden Abend Ausschau nach ihm zu halten. Schließlich war es zwei Hände voll Zeit, also zehnmal schlafen bis zum Heiligen Abend.

"Dann sehe ich eben fern! Vielleicht gibt es in der Werbung einen tollen Tipp für meine Wunschliste. Ich kann mehr dazu malen, weil das Christkind sie ja bislang noch nicht abgeholt hat."

Kurz darauf kuschelte sie sich auf dem Sofa in ihre Weihnachtsdecke. Bei einem Werbespot starrte sie auf den Bildschirm.

'Dieses Getränk verleiht Flügel!' - Eine kleine Dose wurde gezeigt, ein Erwachsener trank daraus und ihm wuchsen sofort riesige Flügel. Nele war begeistert.

Am nächsten Tag zog sie ihre Mutter im Supermarkt zu den Getränken.

"Mama, schau' mal, das Getränk möchte ich probieren!"

"Was? Das ist nur für Erwachsene."

Bitte Mama, bitte, bitte. Nur ein kleines Schlückchen davon - gleich heute Abend."

Bei dem flehenden Blick ihrer Tochter ließ sich Neles Mutter erweichen.

"Okay! Das Getränk wird dir nicht schmecken. Papa kann den Rest trinken, er wollte es immer 'mal probieren."

Nele strahlte auf dem Nachhauseweg. Als es dunkel wurde, holte sie die Dose aus dem Kühlschrank und stellte ihre Weihnachtstasse auf den Küchentisch.

"So, mein Schlückchen bitte."

"Nun gut, du Quälgeist!"

Nele nippte an dem Getränk und verzog das Gesicht. "Puh, eklig!", dachte sie. "Wahrscheinlich muss ich erwachsen sein, damit es mir besser schmeckt. Trotzdem muss ich mehr trinken, sonst klappt es nicht." Sie schob die Dose weg. "Der Rest ist für Papa. Ich gehe etwas in mein Kinderzimmer."

Neles Mutter wunderte sich, dass ihre Tochter gar nicht fernsehen wollte, wo doch gerade ihre Lieblingssendung lief.

Die Kleine rückte ihren roten Kinderstuhl in die Mitte ihres Kinderzimmers. Dann setzte sie sich darauf und streckte beide Arme weit aus. Sie schaute auf ihre linke Schulter, dann auf die rechte, nichts passierte.

"Ich habe vielleicht zu wenig getrunken oder sie wachsen später noch!" Sie schob ihren Stuhl wieder zum Fenster zurück. Plötzlich sah sie etwas Helles am Himmel, das ihr kurz zunickte, dann sofort wieder verschwand. Nele rannte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

"Juhu, das Christkind ist unterwegs! Es ist an meinem Fenster vorbeigeflogen und hat mir zugenickt - genau wie in unserem Weihnachtsbuch. So hat es gemacht, schaut!" Nele bewegte ihren Kopf, so dass ihr Pferdeschwanz hin und her pendelte.

Vor dem Einschlafen schmiedete sie den Plan, das Christkind am nächsten Abend in die Wohnung zu locken.

"Nele, bist du fertig mit deinem abendlichen Bad?", rief ihre Mutter.

"Ja, schon lange! Ich habe mich abgetrocknet und meinen Bademantel angezogen." Ihre Mutter wunderte sich. Sonst gab es regelmäßig kleine Proteste beim Verlassen des Schaumbades. Und heute war sie nach kurzer Zeit bereits fertig.

"Mama, du musst das Badezimmerfenster unbedingt weit auf machen, die Luft hier ist ganz heiß vom Schaumbad."

"Ja, das mache ich immer nach deinem Bad. Geh' lieber sofort ins Kinderzimmer, dort ist es warm. Du möchtest sicherlich bis Weihnachten nicht krank werden. Zum Abendbrot rufe dich."

Während ihre Mutter in der Küche den Tisch deckte, schlich Nele heimlich ins Badezimmer zurück. Sie schloss die Tür von innen ab, obwohl sie das nicht durfte, tauschte ihren bunten Bademantel gegen den weißen ihrer großen Schwester aus, schaltete das Licht aus und versteckte sich in der Dusche. Sie wollte das Christkind nicht erschrecken, wenn es durch das Fenster käme.

"Gut, dass der Bademantel von Sophie so weite Ärmel hat", dachte sie. "Wenn mir heute die Flügel wachsen, kann ich das Christkind sofort fragen, ob ich mit ihm zusammen fliegen darf." Lautes Klopfen an der Badezimmertür schreckte Nele auf.

"Nele, bist du etwa im Badezimmer?"

"Ja", klang es zögerlich.

"Du sollst dich nicht einschließen, das weißt du!"

"Ja", kam es kleinlaut zurück.

"Dann mache bitte sofort die Tür auf!" Die Stimme ihrer Mutter klang ärgerlich.

"Nein, das geht nicht."

"Wieso nicht? Du musst den Knauf nur etwas drehen."

"Ich weiß. Aber wenn ich dir die Tür aufmache, erschrecken wir das Christkind, falls es gerade zu uns kommt. Und es wird mir nie mehr zunicken, wenn es an meinem Fenster vorbeifliegt. Und ich kann nicht zu ihm hinfliegen, um mich bei ihm zu entschuldigen, weil mir immer noch keine Flügel gewachsen sind." Nele schluchzte leise.

"Schätzchen, das Christkind wird dir nicht böse sein!"

Nele öffnete langsam die Badezimmertür. Ihre Mutter drückte die Kleine an sich.

"Leider dürfen wir nicht alles glauben, was die Werbung uns sagt. Niemand bekommt nach diesem Getränk Flügel, auch wenn du das gehofft hast. Sei nicht traurig! Oh je, du bist ganz kalt! Ich mache dir sofort einen heißen Kakao."

"Bist du sicher, dass das Christkind mir wieder zunickt, wenn es an meinem Fenster vorbeifliegt?", Nele hatte noch große Zweifel.

"Ja, davon bin ich fest überzeugt!"