Bauernhaus

Das Adventsfenster

Im hintersten Winkel des kleinen Dorfes stand ein altes Bauernhaus, zu dem die Kinder immer Hexenhaus sagten. Im Haus war es meist finster. Im Vorgarten stand ein alter Baum, in den einmal der Blitz eingeschlagen hatte. Von weitem sah es so aus, als wohne niemand in dem Haus. Ab und zu ging jedoch eine alte Frau über den Hof, eine schwarze Katze saß im Garten, und an der Wäscheleine hing blitzsaubere Wäsche.

„Na ja, eine Katze gehört zur Hexe, auch zu einer reinlichen“, meinten Groß und Klein. Und einen Kräutergarten müsse jede Hexe haben, um einen Zaubertrank zu mischen.

In Wirklichkeit hatte sich jedoch niemand die Mühe gemacht, die alte Frau näher kennen zu lernen. Allen gruselte es, wenn sie wild mit den Armen gestikulierte oder vorbeigehende Spaziergänger stammelnd grüßte. „Böse Zauberformeln“, meinten die meisten. „Macht besser einen großen Bogen um das Bauernhaus“, rieten besorgte Eltern ihren Kindern.

Nun schien sich aber Ungewöhnliches im Hexenhaus zu ereignen. Ein Fenster war mit Tannengrün, Strohsternen und roten Kerzen geschmückt. Seit dem 1. Advent klebte sogar eine große 5 auf der Scheibe.

„Ein neuer magischer Zauber?“, fragten sich einige Spaziergänger. Aber die meisten wussten bereits, dass die Hexe in der Adventszeit zu den 23 Menschen gehörte, die zwischen dem 1. und 23. Dezember alle Dorfbewohner zur fröhlichen Zusammenkunft einluden. Zum erleuchteten „Fenster im Advent“ sollte jeder gute Laune und eine große Tasse für ein heißes Getränk mitbringen. Während des abendlichen Zusammenseins wollten alle Weihnachtslieder singen oder eine Adventsgeschichte hören.

Am 5. Dezember machten sich viele Dorfbewohner auf den Weg zum Hexenhaus. Fast alle hatten ein flaues Gefühl im Magen. Die Kinder hielten sich ängstlich an den Händen, waren aber neugierig, wie die Hexe aus der Nähe aussah.

Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich eine große Menschenschar unter dem hell erleuchteten Fenster am Hexenhaus versammelt. Die Hexe, eine alte Frau, stand vor einem riesigen Kessel mit einem dampfenden roten Getränk. Auf einem Tisch unter dem beleuchteten Fenster dufteten mit Schokolade oder bunten Zuckerstreuseln überzogene Weihnachtskekse.

„Bestimmt Fledermausblut“, meinten größere Kinder mit Hexenerfahrung. „Mit den Keksen will sie uns locken, damit wir immer wieder zu ihr kommen und sie uns dann einsperren und essen kann – wie im Märchen von Hänsel und Gretel.“

Nach so vielen Gruseleien hielten sich die kleineren Kinder noch fester an den Händen oder versteckten sich hinter den Erwachsenen.

Plötzlich drehte sich die alte Frau zu ihren Gästen um, nahm einen Stift und ein großes Blatt Papier. Sie schrieb nur wenige Zeilen:

 

Liebe Dorfbewohner,

danke, dass Sie mit Ihren Kindern heute beim Adventsfenster meine Gäste sind. Leider sehe ich Sie sonst nur von weitem bei Ihren Spaziergängen. Da ich gehörlos bin, konnte ich Ihnen nie richtig „Guten Tag“ sagen und das hole ich heute nach.

Ich wünsche allen einen fröhlichen Abend. Lassen Sie sich den Hagebutten-Tee und meine Weihnachtskekse gut schmecken.

Ihre Lotti Holthausen

 

So war das also. Viele Besucher blickten beschämt beiseite. Einige nahmen ihr Taschentuch und schnieften leise hinein. Sie hatten der alten Frau lange Zeit Unrecht getan, weil sie die freundlichen Gesten nicht verstanden und ihre Gebärdensprache als Hexenlatein abgetan hatten. Zum Ende des geselligen Adventsfensters drückten ihr Groß und Klein zum Dank die Hand und schenkten ihr ein freundliches Lächeln.

Seit dem Adventsfenster gab es mehr Spaziergänger, die ihren Weg vorbei am Hexenhaus wählten. Und die alte Frau konnte den nun langsamer ausgesprochenen Gruß von ihren Lippen ablesen. Viele Kinder dagegen probierten mit großem Spaß etwas Neues aus: Sie redeten mit der alten Frau in der neu erlernten Gebärdensprache.