Wunschzettel

Fynns Wunschzettel

Fynns Mutter wunderte sich, als sie den Wunschzettel am Kinderzimmer-Fenster ihres Sohnes sah. Angeblich sei er dafür längst zu alt, hatte noch vor ein paar Tagen betont und demonstrativ auf das Handy seines Vaters gezeigt. Er, Fynn, müsse sich nur in eine Weihnachts-App einloggen und alles markieren, was er sich zu Weihnachten wünsche. Danach solle sein Vater den Wunschzettel mehrfach für ihn drucken. Er selbst würde ihn Omi Maria, Omi Hilde, Tante Christina und Onkel Matthias geben.

Sollte zusätzlich noch jemand fragen, ob er sich etwas zu Weihnachten wünsche, könnten weitere Wunschzettel gedruckt und verteilt werden. Das spare allen viel Zeit. Seine Eltern müssten keine Weihnachtsprospekte mehr für ihn sammeln, wenn sie in die Stadt führen. Und das Beste dabei: Er hätte keine Arbeit mit dem Ausschneiden, Aufkleben oder Malen seiner Wünsche.

Nun gab es seltsamerweise doch einen Wunschzettel mit fünf Wünschen:

Esel

1. Wunsch (von Mama und Papa):

ein Kalb, ein Schaf, ein Esel.

Diese drei Tiere hatte er ausgeschnitten und einen Zaun darum gemalt.

 

2. Wunsch (von Omi Maria und Omi Hilde zusammen):

eine Saubande.

Jeder Buchstabe des Wortes war mit einem andersfarbigen Buntstift geschrieben.

Gartengeräte

3. Wunsch (von Tante Christina):

ein Garten-Set.

Aus einem Baumarkt-Prospekt hatte Fynn eine Schubkarre und verschiedene Gartengeräte ausgeschnitten, daneben kleine mit Möhren und Radieschen verzierte Rechtecke gemalt.

4. Wunsch (von Onkel Matthias):

10 Bäume.

Vier ausgeschnittene Baumbilder entstammten einem Gartencenter-Prospekt. Die restlichen gemalten Bäume hatte Fynn überall auf dem Wunschzettel verteilt.

Ziege

5. Wunsch (falls noch jemand etwas schenken möchte):

eineinhalb Ziegen.

Eine große und eine kleine ausgeschnittene Ziege bildeten das Wunschzettel-Ende.

Alles zusammen machte für Fynns Mutter keinen Sinn. Ihr Sohn hatte Angst vor Tieren. Ferner konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich für die Gartenarbeit begeisterte. Es interessierte ihn nicht, ob Möhren oder Radieschen im Garten wuchsen. Egal, sie, seine Eltern, könnten alles in der Nähe einkaufen. Warum Beete anlegen, Samenkörner einsäen und möglicherweise - oh wie schrecklich(!) - Unkraut entfernen. Und hinter 'Saubande' vermutete sie ein neues Computer-Spiel. Was um alles in der Welt aber wollte ihr Sohn mit 'zehn Bäumen' anfangen? Auch Fynns Vater, dem sie später den Wunschzettel zeigte, konnte sich keinen Reim darauf machen.

Beim Abendessen fragte Fynns Vater ihn direkt: "Kannst du uns sagen, warum du deine Meinung geändert und einen Wunschzettel aufgehängt hast? Noch vor einigen Tagen wolltest du deine Wünsche in die Weihnachts-App eingeben, und ich sollte alles für dich drucken?"

"Ja, schon! Aber das, was ich mir wünsche, gibt es nicht in der Weihnachts-App."

"Mhm. Das denken wir auch. Wer wünscht sich schon zu Weihnachten ein Kalb, ein Schaf, einen Esel und zehn Bäume? Und erst recht nicht eineinhalb Ziegen. Ein Garten-Set für Kinder ist ebenfalls ungewöhnlich und wird sich nicht in der App finden lassen. 'Saubande' könnte ich eingeben. Damit ist sicher ein neues Computer-Spiel gemeint!"

"Stimmt, ist alles komisch, aber echt cool!"

"O.k., dann klär' uns 'mal auf. Wir sind ganz Ohr!"

"Also, das sind keine echten Geschenke. Die tun nur so, als wären es welche."

"Das verstehen wir nicht. Und wer sind 'die'?" Seine Eltern schauten ihn verständnislos an.

"Na, die im Geschäft können alles bestellen. Du suchst dir etwas aus, bezahlst, schreibst einen Namen darauf, wie bei unseren Weihnachtsanhängern, und du bekommst eine Magnet-Karte für den Kühlschrank gratis."

"Was? Die dürfen keine Tiere an Kinder verkaufen, mit Geschenkanhängern schmücken und unter den Weihnachtsbaum stellen. Wäre auch etwas schwierig, einen Esel in Geschenkpapier zu verpacken. Und zu 'eineinhalb Ziegen' fällt mir nichts ein. Soll das eine lebendige und eine geschlachtete Ziege sein?"

"Nein, alles falsch! Ich sagte es euch schon, dass sind coole Geschenke, die ich mir noch nie gewünscht habe. Felix, Hannah und einige andere Kinder aus unserer Klasse haben den gleichen Wunschzettel aufgehängt. Frau Meyer, unsere Erdkundelehrerin, hat uns darauf gebracht, als wir über superarme Länder sprachen, in denen die Menschen nicht genug zu essen haben."

"Verstehen wir nicht - sorry!"

"Also, das ist so eine Art 'Spende'. Du kaufst alles nur scheinbar, nicht als echtes verpacktes Geschenk. Die vom Geschäft schicken dann die Tiere, Bäume oder das Garten-Set irgendwo hin, wo die Menschen es dringend brauchen. In anderen Ländern züchten sie mit meinen Tieren mehr Tiere, haben Milch, machen Käse oder pflanzen Bäume. Gott sei Dank muss ich das nicht selbst machen!"

"Das ist eine prima Idee. 'Saubande' ist wohl auch kein neues Computer-Spiel?"

Wollschwein

"Nee", Flynn lachte, "damit sind echte Schweine gemeint. Finden die beiden Omis bestimmt gut. Sie erzählen mir oft, dass sie früher selbst zu Hause Schweine gezüchtet haben."

"Bestimmt finden sie das toll", Fynns Mutter stimmte ihm zu.

"Ach so - und 'eineinhalb Ziegen' sind eine Ziege und ein Zicklein. Wir haben voll gelacht, als Frau Meyer das gesagt hat."

"Nun, wir sind überrascht von deinem außergewöhnlichen Wunschzettel. Wo findet das Christkind das Geschäft?"

"Ach, das ist nicht schwer! Ich frage Frau Meyer morgen nach der Adresse. Dann schreibe ich sie unten auf den Wunschzettel. Sollten einige Tiere ausverkauft sein, muss das Christkind nur in eine andere Stadt fliegen. Das Geschäft gibt es überall."